Freitag, 25. Dezember 2009

t = -4 (Berlin-Bashing I)

Noch vier Tage bis zum Ereignis. In vier Tagen beginnt ein Selbstexperiment mit ungewissem Ausgang. Zum ersten Mal seit meiner Flucht werde ich Berlin betreten.

Wenn ich in Zürich erzähle, dass ich zehn Jahre in Berlin gelebt habe, fangen immer alle Gesichter auf diese seltsame Art zu leuchten an. Wow, sagen sie, Berlin. Das war bestimmt toll. Ich sage, ich bin froh, dass ich da weg bin. Die Gesichter werden zu Fragezeichen, sehr großen Fragezeichen. Ich setzte zu längeren Erklärungen an, die von meinem Gegenüber stets mit eifrigem Kopfnicken begleitet werden. Das Fragezeichengesicht bleibt. Ich kann mich nicht verständlich machen. Berlin ist ein Sehnsuchtsort für die Zürcher, eine Legende, das Shangri-la and der Spree. Ein Gegenentwurf zum beschaulichen Leben in der Stadt am See, dreckig, riesig, voller Verrückter, cool und szenig und einfach in allem anders als Zürich und viel urbaner.

In der gestrigen NZZ schreibt die Wahlberlinerin Iris Hanika „Vom Glück der grossen Stadt“ und nur wer den verklärten Blick der Zürcher auf das dicke B nicht kennt, wundert sich, dass die Zürcher Tageszeitung 4000 Zeichen Platz hat für eine Berlin-Kolumne. Die Autorin findet, es sei die große Auswahl an seltsamen und verrückten Menschen, die das Metropolen-Gefühl ausmache. Sie findet es schön, „unter so vielen Verrückten leben zu dürfen. Weil ich mich dabei so normal fühlen kann. Ich bin nicht allein.“

Bei mir ist es umgekehrt. Ich fühle mich in Berlin nicht normal, weil ich nicht normal bin. Ich passe mich sofort und automatisch an die lokalen Gepflogenheiten an. Ich beginne, Busfahrer anzublaffen, Leute anzurempeln, die mir auf der Treppe entgegenkommen, und bei jeder Gelegenheit auf den Boden zu spucken. Ich führe laute Selbstgespräche und drehe mitten auf der Straße um. Ich laufe lange Strecken, um zu einem fettfreien Latte zu kommen. Ich fühle mich beobachtet. Ich bekomme nervöse Zuckungen. Ich kaue Nägel in der Öffentlichkeit. Ich sage Geilomat und muss mich dann selber ins Gesicht schlagen. Ich esse Nutella aus dem Glas. Ich bewerfe Passanten mit Backsteinen und freue mich wie eine Waldhexe, wenn sie bluten.

Und ich fühle mich in Berlin übrigens trotzdem alleine, denn wir Verrückten reden ja nur mit uns selbst und nicht mit den anderen. Gut wohne ich jetzt in Zürich. Da denken alle, ich sei normal, nur weil ich nett bin und grüße und nicht spucke und nur mit mir selbst rede, wenn sonst keiner zuhört. Und wer Groys gelesen hat, weiß, dass die Annahme, dass es sich bei meiner Berliner Persönlichkeit um mein wahres Ich handeln muss, weil es hässlich und gemein ist, eben nur ein Verdacht ist. In Wahrheit bin ich die reine Oberfläche und Ihr wisst gar nichts. Achtung Backstein! Hihihi.


Berlin - wo sich selbst die Statuen anbrüllen

Dienstag, 15. Dezember 2009

Überwindung

Ich geb’s ja zu, das Blog wird fad. Die Entdecker-Euphorie ist vorüber, der Alltag hat eingeschlagen und am Wochenende rodeln oder wandern ist einfach erholsamer als darüber nachzugrübeln, was ich der Welt Neues zu erzählen habe.

Ich könnte erzählen, dass ich im Schweizer Fernsehen war. Alle haben’s gesehen außer mir. Mein Turbointegrierten-Geschwätz haben sie allerdings rausgeschnitten; es passte nicht in die These der Sendung, dass sich die Deutschen hier bedroht fühlen oder ungeliebt. Jedenfalls hätte sich das Integrationsbüro bestimmt nicht zu dem beschwichtigenden Brief genötigt gefühlt, wenn mein Beitrag drin geblieben wäre. Ich wundere mich allerdings, dass es keinen Beschwichtigungsbrief nach der Minarett-Abstimmung gab. Oder haben den nur Muslime bekommen? Aber woher wollen die wissen, dass ich keine Muslimin bin?

Zumal nicht mal meine zuständige Gemeinde weiß, dass ich auf dem Papier Protestantin bin und damit eigentlich ein Schäfchen. Eigentlich sogar ein zu rettendes Schäfchen, wenn man mal den Grad meiner Abtrünnigkeit betrachtet. Nein, die Kirchengemeinde Wiedikon weiß nichts von mir. Aber mit einem ansprechenden Plakat fordert sie mich auf: Überwinde das Böse durch das Gute. Die Farbsymbolik des Banners ist geradezu parodistisch. Während zuerst das Böse farblos und das Gute bunt hinterlegt ist, verkehrt sich das in der Wiederholung ins Gegenteil. Hmm, was uns das wohl sagen will?



Außerdem ist auch der Informationsgehalt des Ganzen relativ gering. Ersetzt man, wie meine Mitbewohnerin vorschlägt, „das Böse“ mit einem beliebigen Substantiv und „das Gute“ mit dessen Gegenteil, erhält man immer ein sinniges Lebensmotto. Es ist geradezu ein Sinnspruchautomat. Überwinde die Faulheit durch den Fleiß. Überwinde den Stillstand durch die Bewegung. Überwinde die Angst durch den Mut. Überwinde die Ignoranz durch die Weisheit. Überwinde die Liebe durch den Haß. Überwinde die Feindschaft durch die Freundschaft. Überwinde das Sein durch das Nichts. Überwinde den Fortschritt durch die Regression. Großartig.

Übrigens ist die Schweiz ist nach wie vor mein Paradis, meine heile Welt, mein Mekka. Ein Land, das Lindt-Schokoladen und Greyerzer-Käse hervorgebracht hat, kann nicht böse sein. Ja, das gilt auch nach der Minarett-Abstimmung noch. Obwohl ich das Ergebnis schockierend finde, halte ich es nicht für genuin schweizerisch. Im Gegenteil, die nun entsetzten Nachbarländer können nur froh sein, dass Ihre Bevölkerung nicht abstimmen darf. Häme ist jedenfalls nicht angebracht. Punkt. Ich mag jetzt langsam echt keine Witze mehr hören über die Schweizer Turmphobie. Und wenn noch einer Hinterwäldler sagt, kriege ich Pusteln. Überwinde den Ausschlag durch die reine Haut. Ommm.

Freitag, 11. Dezember 2009

Post vom Integrationsbüro

Sehr geehrte Damen und Herren

Sie haben an der letzten Begrüssungsveranstaltung für Neuzugezogene, 24.11.2009, teilgenommen . Einige von Ihnen wurden evtl. für die Sendung Reporter vom SF interviewt oder gefilmt. Gestern Abend wurde die Sendung zum etwas traurig anstimmenden Thema "ungeliebte Deutsche" ausgestrahlt. Wie oft in den Medien, wurde ein Problem etwas stark hervorgehoben, so dass wir es hier nicht mit einer ganzheitlichen Berichterstattung zu tun haben.

Der Integrationsförderung ist es wichtig, dass auch die Tatsache berücksichtigt wird, dass die Mehrheit der Deutschen sich in Zürich wohl fühlen.

Die neuesten Daten der repräsentativen Bevölkerungsbefragung 2009 bestätigen dies ebenfalls:

Auf die Frage, wie gerne sie insgesamt in der Stadt Zürich wohnen, antworteten 78,6% der befragten Deutschen mit sehr gerne, 20,9% mit eher gerne und nur 0,5% mit eher ungern, wobei niemand sehr ungern angekreuzt hat.

Auf die Frage, wie sie sich in Zürich daheim fühlen, antworteten 42% mit sehr daheim und 50,2% mit daheim, während es nur 7,4% bei nicht so daheim sind und niemand die Frage mit überhaupt nicht daheim angekreuzt hat.

Trotzdem ist es uns sehr wichtig, dass diese Einzelfälle ernst genommen werden. Wir hoffen aber, dass diese Art von Berichterstattung nicht noch weitere Nachtäter animiert.

Wie Sie wissen, ist die Zahl der Deutschen (Bevölkerungsbestand wie auch NeuzuzügerInnen) in Zürich in den letzten Jahren stark angestiegen. Die Verschlechterung, welche im Beitrag angesprochen wird, kann meiner Meinung nach auf verschiedene Ursachen zurückgeführt werden: einerseits die veränderten Proportionen, die allgemein verschlechterte Wirtschaftslage und die zusätzlichen Ängste in der Bevölkerung in Bezug auf die veränderte Migrationslandschaft (Hochqualifizierte). Zudem wurden die teilweise bereits vorhandenen Ressentiments zwischen Schweizern und Deutschen in den letzten Jahren medial stark aufgegriffen und dadurch teilweise verschärft.

Die Sendung wird nochmals ausgestrahlt. Infos finden Sie unter:

http://tvprogramm.sf.tv/details/418fb517-3030-415a-ba81-e5df58b0775a


Wiederholungen:
Donnerstag, 10. Dezember 2009, 05.30 / 14.35 Uhr auf SF1
Sonntag, 13. Dezember 2009, 07.30 / 09.20 Uhr auf SFinfo

Falls Sie in Zürich ähnliche Schwierigkeiten haben sollten, lassen Sie es uns wissen! Besten Dank! Wir wünschen Ihnen einen problemlosen Start und eine gute Zeit!

Freundliche Grüsse

Montag, 7. Dezember 2009

11 gute Tipps für Weihnachtsstimmung bei Nieselregen

1. Sternenregen auf dem Rennweg angucken
2. Bahnhofstrasse unbedingt vermeiden
3. mit den Füßen im Gefrierfach vom letzten Skiurlaub schwärmen
4. abwechselnd „Winterwonderland“ und „White Christmas“ vor sich hinsummen, das sorgt auch bei den Mitmenschen für den richtigen spirit
5. Glühwein und Maroni am Stand konsumieren, Sommerschuhe sorgen für angemessen kalte Füße
6. möglichst viel Weihnachtsgebäck konsumieren
7. Schlittschuhlaufen
8. alle nach ihren Plänen für die Feiertage fragen
9. im Geschäft immer „Besinnliche Festtage“ wünschen
10. im stylischen Zürich nur für Profis: rot-weiße Samichlausmützen tragen und bei jeder Gelegenheit „ho, ho, ho“ sagen
11. Tipp 1-9 unbedingt regelmäßig und konsequent anwenden

Sonntag, 29. November 2009

Jetzt ist es geschehen.

Jetzt ist geschehen, woran hier niemand glaubte. Die Schweizer haben per Volksentscheid beschlossen, Minarette zu verbieten. Und zwar explizit Minarette und nur Minarette. Man tut nicht mal so, als wäre das unparteiisch, und ginge an alle baulichen Glaubensbekenntnisse. Natürlich, dann müsste man ja auch Kirchtürme verbieten. Oder, wenn man die christliche Religion als heimatlich ausnimmt, Synagogenkuppeln. Das würde aber plötzlich durchsichtig machen, in welcher Tradition das Ganze steht (die Ikonografie der Plakate ist anscheinend nicht deutlich genug). Also nur Minarette verbieten.

Seit ich in der Schweiz lebe, habe ich mehrfach über die direkte Demokratie diskutiert, auf die die Schweizer sehr stolz sind. Fast war ich schon von meiner grundsätzlichen Ablehnung abgekommen. Denn zugegebenermaßen hat die direkte Demokratie sehr viele Vorteile. Und nur einen Nachteil: das Volk. Ich war und bin davon überzeugt, dass Minderheitenschutz und Menschenrechte nicht garantiert bleiben können, wenn nur die Mehrheit zählt. Wenn, wie in diesem Fall, diffuse Ängste und Frustration die Gründe liefern für eine Entscheidung. Ohne Zweifel sind die Schweizer aufgrund ihrer Tradition der direkten Demokratie tatsächlich informierter, interessierter und humanistischer als andere Völker. Aber offenbar doch nicht humanistisch genug.

Das Ergebnis macht Angst. Denn es ist ein lautstarkes Signal gegen Toleranz und Miteinander. Es geht nicht um Minarette. Von denen gibt es ganze vier Stück in der Schweiz, niemand hier kann mir glaubhaft versichern, dass er sich von einem solchen Bauwerk bedroht fühlt. Nein, es geht nicht um die Minarette, sondern um die Muslime. Es geht gegen die Muslime, die mit Islamismus und Gewaltbereitschaft gleichgesetzt werden und denen ein organisiertes Streben nach Weltherrschaft unterstellt wird. Doch eigentlich ging es bei dieser heutigen Abstimmung meines Erachtens noch nicht einmal nur oder zuerst gegen Muslime, sondern vor allem gegen Zuwanderung überhaupt.

Irrationale Ängste haben mehr Menschen als sonst dazu gebracht abzustimmen, Ängste, die von der Rechten geschürt und von der Linken nicht aktiv genug bekämpft worden sind. Dieselben Ängste wie überall, sie nehmen uns die Arbeitsplätze weg, bald sind wir im eigenen Land in der Minderzahl usw. Nur, dass hier diese Ängste heute Gesetz geworden sind, anstatt als rassistisch tabuisiert zu werden.

Das Ergebnis macht mir persönlich Angst. Denn, obwohl ich hier sehr herzlich aufgenommen wurde und fast nur weltoffene Leute kennengelernt habe, spüre ich doch mehr und mehr, wie wütend viele Menschen hier auf uns Zuwanderer sind und wie bedroht sich viele durch uns fühlen. Manche ärgern sich über Minarette, manche über das viele Hochdeutsch auf der Straße. Meistens sind es die gleichen.

Alexander Segert, der Mann, der hinter den faschistoiden Plakaten steckt, und selbst ein deutscher Einwanderer, sagt, er würde auch eine Kampagne mit dem Slogan „Deutsche raus“ konzipieren (hier), wenn man ihn dafür bezahlt. Leider ist das gar nicht abwegig.


Sind die aus Pappe auch verboten? Kreativer Minarettbau bei Protestkundgebung auf dem Helvetiaplatz.

Donnerstag, 26. November 2009

Mein Eintritt in die Parallelgesellschaft

Ich bin vorgestern erfolglos integriert worden, ach nein, begrüßt worden bin ich, und zwar herzlich, außerdem erfolgreich abgefüllt und in die Parallelgesellschaft gedrängt. Was da stattfand war ja auch gar nicht der „Integrationsapéro“, eine Bezeichnung, die sich nur bei den Betroffenen eingebürgert hatte, sondern ein "Begrüssungsapéro". Von Integration war also nie die Rede gewesen.

Wer mich und 239 andere Ausländer da begrüßt, das ist die Stadt Zürich höchstpersönlich und zwar in Gestalt dreier Damen mit vielfältigen Sprachkenntnissen. Integrieren könnten sie uns sowieso nicht, denn wir sind eindeutig in der Überzahl. Stattdessen verkünden sie in unzähligen Idiomen Allgemeinplätze oder projizieren kurze humorvolle Texte und freundliche Bilder per Power-Point-Präsentation an die Wand. Man verspricht Hilfe in allen Lebenslagen, sogar bei Arbeitslosigkeit. Dieses Angebot finde ich sehr freundlich und werde bestimmt darauf zurückkommen. Alle wichtigen Themen werden angetippt: Arbeit, Freizeit, Familie, Bildung und sogar Religion. Zumindest sind das die Bereiche, die die Stadt Zürich in Gestalt der drei Damen wichtig findet. Ich persönlich finde Klimaschutz ja viel wichtiger als Religion und über Haustiere, Essen und Trinken und öffentliches Knutschen müsste man auch dringend mal sprechen.

Aber gut, reden wir also über Religion. Religionsfreiheit ist nämlich ein wichtiges Gut in der Schweiz. Naja, so lange man keine Türme dafür braucht jedenfalls (Hä?). Aber darüber wollen wir an diesem Abend lieber nicht sprechen, eigentlich betrifft es ja auch niemanden. Es sind nur zwei Muslime da, niemand ist verschleiert. Und dass sich ein paar Deutsche unangenehm erinnert fühlen an faschistische Suggestivästhetik, ist jawohl ein Einzelfallproblem. Selbst schuld, wenn man sich den „ewigen Juden“ und andere Glanzstücke der nationalsozialistischen Filmindustrie angesehen hat und nun vor jeder zweiten Plakatwand daran denken muss. Nein, wir wollen uns alle liebhaben an diesem Abend. Harmonie-hie-hie ist eine Strategie.

Später werden wir nach Sprachgruppen getrennt durch die Zürcher Altstadt geführt. Nur wenige historische Hinweise, das wäre ja auch viel zu trocken für solch einen vergnüglichen Abend, dafür ganz viele praktische Tipps. Welch ein Glück, dass ich die schönen Plätze schon entdeckt habe, bevor eine drahtige Stadtführerin im Rentenalter Gelegenheit hatte, mir mit verschwörerischem Augenzwinkern zu verkünden, dass sich dort im Sommer das junge Volk treffe. (Thomas D., seines Zeichens gelernter Friseur, hat einmal in einem Interview gesagt, dass er jedes Friseurgeschäft wortlos verlassen muss, wenn man ihn fragt ob’s auch „etwas Freches“ sein dürfe.) Überhaupt dieser Stadtführer-Humor, immer nur ein bisschen anzüglich, nie zu sehr, und immer so unerträglich konsensfähig. Werden die damit geboren oder besuchen sie spezielle Stadtführer-Schulungen? Gibt es Witz-Datenbanken, nach historischen Gebäuden geordnet? Die anderen in meiner Gruppe finden das charmant und lachen immer an den richtigen Stellen. Liegt's an mir?

Nach dem Auslauf betrinken wir uns alle gemeinsam und sollen uns kennenlernen. Warum eigentlich? Wäre es nicht integrationsfördernder Schweizer zu treffen? Zumal ja, zumindest laut Ivo Marusczyk, die meisten Deutschen das alleine nicht hinkriegen. Nun gut. Ich lerne also kennen und rutsche prompt in die Parallelgesellschaft ab: Ich verabrede mich mit anderen Deutschen zum Skat spielen. Egal, von Integration war ja nie die Rede, dafür gibt es eigene Integrationsabende, wo man lernt, wie man Weckli kauft, und übt, richtig Grüezi zu sagen. Schweizer treffen kann man da zwar auch nicht, aber vielleicht klappt's dann endlich mal mit dem Nachbarn.

Mittwoch, 18. November 2009

Herbstblog

Es ist Herbst in Zürich und der Nebel ist endlich da. Er dampft nicht mehr nur aus dem Uetliberg heraus, als läge dieser am Rand von Mittelerde, sondern hängt jetzt morgens über der ganzen Stadt. Die Zürcher Nebelsuppe ist legendär und dient den Bergbewohnern gerne als Spottvorlage gegen die eingebildeten Städter. Sie wabert jetzt auch allmorgendlich durch meinem Hinterhof. Im Sommer hat es einmal ein paar Häuser weiter gebrannt, das sah ganz ähnlich aus, aber es roch schlechter. Jetzt riecht es morgens nur nach E-Herd. Dieser seltsame Geruch der Herdplatten, wenn sie heiß werden, und der gar nicht heimelig ist oder nur auf eine beklemmende Art und Weise.

Wenn der Nebel am Morgen über dem See hängt im Gegenlicht, sieht es aus wie das Ende der Welt, das heranrückende Nichts, das eben nicht schwarz ist, sondern einfach nichts. Die Masten der verwaisten Segelboote ragen in die Höhe, ganz still, als wären sie festgefroren in dem hellen Weiß.



Minuten später ist der Nebel verschwunden. Dann kann man plötzlich weit ins Gebirge hineingucken, überklar ist jede Felszacke, die aus dem Schnee ragt. Fast erschreckend ist dieser Anblick und ich wundere mich, dass ich als einzige Passantin meine Augen nicht abwenden kann, während alle anderen zur Arbeit hetzen oder joggend auf den Boden starren und in ihren I-Pod hineinhorchen. Ich bin die einzige, und ich riskiere sogar noch etwas dabei, weil man beim Fahrradfahren nicht zur Seite sehen sollte, jedenfalls nicht, wenn Bäume oder Pfosten in der Nähe sind.

Wenn man die Berge sieht, dann ist Föhn, habe ich gelernt. Ich weiß immer noch nicht, was Föhn eigentlich ist. Manche Menschen bekommen Kopfschmerzen davon und schlechte Laune. Ich habe gute Laune, weil man die Berge sieht und ich trotzdem noch keinen Baum gerammt habe.

Dass es Herbst ist, merkt man auch daran, dass man anfängt zu deklamieren. Die meisten machen es innerlich, manche tun es laut. Seltsam, im Nebel zu wandern und jage die letzte Süße in den schweren Wein. Der Herbst ist einfach die poetischste Jahreszeit. Nur der Frühling kann damit konkurrieren, wenn Strom und Bäche endlich vom Eise befreit sind und ein blaues Band durch die Lüfte flattert. Aber Sommer und Winter finden nicht statt im bildungsbürgerlichen Zitatenschatz, warum eigentlich?


Jeder ist allein.

Dienstag, 3. November 2009

Kranksein

Immer, wenn ich krank bin, begebe ich mich auf die Suche nach Friedhöfen. Ich vermute, es liegt weniger an der Nahtoderfahrung von 38,6 Fieber als daran, dass Friedhöfe einfach gute Spazierziele sind und spazieren gehe ich nur, wenn ich krank bin. Das ist ja auch das einzige, was man dann so tun kann, und es soll auch guttun, sagt man zumindest.

Und auch wenn also die Ausarbeitung von Bestattungswünschen nicht das oberste Ziel dieser Gänge ist, macht man sich eben so seine Gedanken. Zum Beispiel habe ich vor kurzem beschlossen, dass ich im Sarg erdbestattet werden möchte und nicht verbrannt, obwohl in das in meiner Familie aus irgendeinem Grund schon seit Jahrzehnten als common sense gilt. Aber mir gefällt die Vorstellung, dass ich von Würmern zerfressen werde und zerfalle und aus meinem Fleisch Gras und Bärlauch wachsen. Außerdem möchte ich einen lebensgroßen Steinengel mit geneigtem Kopf auf meinem Grab haben. Nicht, dass ich an Engel glauben würde oder auch nur an Gott, aber die sind einfach schön.

Auf meinen Streifzügen ist mir aufgefallen, dass Zürich nicht nur zum Leben eine tolle Stadt ist. Mein neues Hinterland bietet mehrere Möglichkeiten von wirklich schönen letzten Ruhestätten. Komisch, dass man einen idyllischen Platz dafür haben möchte, am besten noch mit Aussicht. Eigentlich könnte einem das doch vollkommen egal sein, schließlich sieht man ja nichts mehr und liegt sowieso 1,5 Meter unterhalb von Aussicht und Idylle. Eigentlich könnte man doch praktisch denken und sich dort begraben lassen, wo es die Angehörigen nicht weit haben. Oder man könnte sagen: ist mir doch egal, was dann ist, sollen die mit mir machen, was sie wollen und sowieso sollten die schönen Plätze lieber zum Leben benutzt werden als zum Totsein. Aber irgendwie gefällt mir die Idee, dass meine Angehörigen, wenn sie mich sehen wollen, nach Zürich reisen und dann die Bachtobelstrasse hinaufpilgern müssen, vorbei an den wunderschönen, putzigen Einfamilien-Reihenhäusern mit Vorgärten, hinter deren idyllischen Fassaden es ganz sicher gärt. Im Anblick der Häuschen würden meine Angehörigen bedächtig mit den Köpfen nicken und keuchen (denn sie wären vom Anstieg außer Atem): Jaja, das war immer ihr Traum, aber sie hat halt Pech gehabt. Und ich würde mich oben am Uetliberg im Grabe herumdrehen und murmeln: Nein, Pech habe ich nicht gehabt, sondern Glück. Der Traum war fehlerhaft.

Die Frage ist allerdings, wie lange ich als Ausländerin hier leben muss, bevor ich mich auf einem Schweizer Friedhof begraben lassen darf. Also, moralisch gesehen, meine ich. Nicht, dass es dann in der Presse heißt: Die Deutschen nehmen uns die Jobs weg, die Frauen und jetzt auch noch die Gräber. Joyce war, glaube ich, insgesamt nur 4 Jahre da und ist trotzdem ein beliebter Zürcher Begrabener. Vermutlich würde es also helfen, wenn ich dicke Bücher schreiben könne und berühmt werden würde. Das würde sowieso helfen. Andererseits könnte ich mich auch immer noch darauf berufen, dass ich niemandem die Frau weggenommen habe und bis jetzt auch keinen ordentlichen Job, vielleicht lassen sie mir das Grab dann durchgehen.

Montag, 19. Oktober 2009

Messe in a bottle

Das ist also Ihre letzte Messe, sagen uns die Leute. Ich denke an Requiem und letzte Ölung. Und sage lächelnd: ja, genau. Wir müssen lächeln, Befehl von ganz oben. Sonst werden wir nach Hause geschickt. Ich habe das ja, um ehrlich zu sein, als Versprechen verstanden: Wenn ich nicht mehr kann, muss ich nur eine halbe Stunde griesgrämig gucken und dann darf ich nach Hause fahren. Aber dazu ist es dann doch nicht gekommen.

Abends auf dem Fest der Jungen Verlage ist es voll, richtig voll, rammelvoll. Es nervt und der einzige Vorteil ist, dass man weiß, man ist da, wo alle sind. Aber was da passiert und wer den Preis bekommen hat, das muss man am nächsten Tag in der Messezeitung nachschlagen. Aus der Damentoilette ragt, wie könnte es anders sein, eine Schlange. Eine der zwei Kabinen wird nicht benutzt. Die Spülung ist kaputt, sagt man. Ich gehöre zu der Sorte Mensch, die sich stoisch mit solchen Dingen abfindet. Aber hinter mir löst sich eine Aufgeregte aus der Schlange, eine adrett gekleidete Businessfrau, aber stilvoll, eine Managerin, eine Geschäftsführerin, mindestens Vertriebsleiterin, eine Macherin, jemand, der zupackt, der sich zuständig fühlt, der nicht einfach wegsieht. Sie gibt uns zu verstehen, dass sie das schon regeln wird. Und aus der Kabine hören wir kurz darauf, dass nur der Hahn nicht aufgedreht gewesen sei. Als die Macherin die Kabine verlässt, verkündet sie, dass das nun doch nicht so funktioniert habe, wie sie sich vorgestellt habe, aber man könne die Toilette trotzdem benutzen, wenn man nur das Papier wie sie daneben werfe. Als wir Wartenden sie wortlos anstarren, macht sie ein schnippisches Geräusch, das heißt: selber schuld, wenn Ihr lieber warten wollt, und wendet sich dem Wasserhahn zu.

Jemand fragt meine Kollegin, ob Pessoa heute nochmal an den Stand kommt.

Jemand von Suhrkamp umarmt mich stürmisch, weil er mich im Augenwinkel für meine Chefin hält. Als er mich scharf gestellt hat, erschrickt er und flüchtet.

An der Lesebühne vom Gastlandauftritt China sitzt ein Chinese und liest. Er schiebt der mittelalten Frau gegenüber einen Flyer hin. Sie sieht ihn fragend an. „I read.“ „O, you are the author?“ „Yes.“ Schweigen. „You live in Europe?“ „No. I live in China. And you, are you from here?“ „Yes, yes. From here.“ Sie zeigt auf den Hallenboden. „And what do you do?“ „I am a mother“, Pause, „and a, äh…“ „Housewive?“ „Yes, yes. A housewive.“ Ein schmales, langes Mädchen, das ich ungefähr auf dreizehn schätze tritt an den Tisch. „Is this your daughter?“ „Yes.“ „How old is she?“ „Äh, twenty.“ „Like my daughter.“ „You have a daughter?“ „Yes.“ „Good.“ „Yes.“ Der Chinese entschuldigt sich. Ich frage mich, ob sich Chinesen und Deutsche durch die Buchmesse näher gekommen sind.

Unser Waldschrat strandet nach einer Party in einer Suite im Luxushotel. Das war am Samstag wohl der Place to be, aber da war ich nicht da. Ich habe mich gleich auf die Messezeitung verlassen. Ich war bei einem wunderbaren bulgarischen Kinderbuchillustrator, der mit dem allerschönsten Akzent über jeden Stier, den er gemalt hatte sagte: Das ist mein Bruder. Er signiert mir ein Buch mit Planetenfressern und einem Kalb, das dem Mond auf dem Rücken hockt. Der Mond kann sich umdrehen soviel er will, das Kalb ist immer hinten und er kann es nicht sehen. Der alte Maler freut sich über meinen Pferdeschwanz. Er hat bestimmt auch mein Mondkalb darunter bemerkt. Es war nämlich nicht so schüchtern wie ich.

Dienstag, 29. September 2009

Physische Völkerverständigung

Nur um Urs Lügen zu strafen (er behauptet, das Ende meines Blogs sei bereits abzusehen), kommt hier noch ein 5. Beitrag im Monat September. Dass ich mich hier in der Schweiz sehr willkommen fühle, ist kein Geheimnis. Die Schweizer sind einfach viel netter! Gestern erst wurde ich in neun Sprachen (von denen ich zwei nicht einmal identifizieren konnte) von der Stadt Zürich zu einem Willkommensrundgang mit anschließendem Apéro eingeladen. Heute rettete eine Passantin meinen Lieblingspullover und als ich neulich im Ausgang beklaut wurde, hat der Gentleman-Gangster doch nur das Bargeld genommen und das komplette Portemonnaie wieder in meine Tasche gesteckt. Und hier wird viel mehr geflirtet als in Berlin, wo ein langer Blick schon als uncool und anhänglich gilt.

Doch, o Schreck, bei meinen unermüdlichen Recherchen zur schweizer-deutschen Völkerverständigung stieß ich heute auf dieses Zeugnis Schweizer Herzlichkeit.
Abgesehen von den ernsten Selbstzweifeln, die mich angesichts dieses schrillen Schweizer Online-Magazins erfassten (Ist mein Blog eigentlich zu brav und zu reizarm? Sollte ich mehr über Drogen und Sex berichten und wenn ja, würde ich dazu die Gonzo-Methode anwenden müssen?), war ich zunächst entzückt: Wieder ein Schweizer, der mich willkommen heißt, und mich noch dazu mit einem Gänseblümchen vergleicht! Doch beim Weiterlesen dämmerte mir bald eine schreckliche Erkenntnis:

Die Schweizer Männer denken, wir deutschen Frauen seien lockerer (und erfahrener). Die deutschen Frauen (ich eingeschlossen) finden die Schweizer Männer unkomplizierter. Könnte es sein, dass wir alle einem urbanen Mythos aufgesessen sind? Am Ende sind wir alle genau gleich verklemmt und verhalten uns nur anders, weil das Gegenüber ja schließlich leicht rumzukriegen sein muss, als deutsche Frau / Schweizer Mann. Ich erinnere mich an den Abschlussabend einer Jugendfreizeit, wo wir Betreuer ca. 30 Vierzehnjärige sturzbetrunken gemacht haben mit der Behauptung, es befände sich Alkohol im Punsch. Und nun muss ich mich fragen: Bin ich wie ein Teenager einem berauschenden Schwindel aufgesessen??? Und nicht nur ich! Tausende von Disco-Knutschereien und Badi-Flirts basieren auf nichts als einem Missverständnis! Und was passiert, wenn das auffliegt?

Liebe Schweizer Männer: wir brauchen sofort einen Pakt! Lasst es uns machen wie Eltern. Sie erzählen doch immer allen Kinderlosen, wie herrlich die Kleinen sind und dass sie einen für die unsäglichen Geburtsschmerzen und die durchwachten Nächte und all das andere Ungemach millionenfach entschädigen. Nur untereinander erlaubt es ihnen das ungeschriebene Gesetz zu klagen; nur wer sich bereits reproduziert hat, darf die Wahrheit kennen. Machen wir es auch so! Lasst uns im Namen der Völkerverständigung den Mythos des lockeren Schweizers und der scharfen Deutschen aufrechterhalten! - Und über unsere Verklemmtheiten reden wir dann mal heimlich unter uns, wenn das Licht aus ist und keiner zuhört, ja?


Psst, Ihr Hübschen, schön den Mund halten!

Sonntag, 27. September 2009

Schiess-Blog

Schiessen heißt in der Schweiz nicht unbedingt immer das, was man erwartet. Wij sagt man hier zum Wein; wiiss ist weiß und schiessen heißt eben? richtig geraten. Ein Tüpflischiesser ist also auch keiner, der Pünktchen abfeuert, sondern – ein Korinthenkacker. Schießen heißt auf Schweizerdeutsch dann übrigens schüüsse. Liebe heißt deswegen allerdings noch lange nicht *Lüübe, sondern Liebi, und Ei bleibt Ei. Versteh einer dieses System. Aber zurück zum Thema. Dieser Blog dreht sich nicht um Exkremente oder ums Schweizerdeutsche, sondern tatsächlich um Waffen.

Ich war nämlich vorletzte Woche auf dem Knabenschiessen – das heißt im Original übrigens Chnaabeschüüsset, um dem ersten Missverständnis schon einmal vorzubeugen. Aber auch, wenn man das weiß, gibt es noch zahlreiche Möglichkeiten, sich etwas Falsches darunter vorzustellen. Die erste Vermutung ist meist, dass auf kleine Jungs geschossen wird. Dann gibt es noch ein paar vergnüglichere Thesen wie zum Beispiel, dass es sich um ein Paintballfestival handeln könnte (eine argentinische Freundin) oder um ein Partyspiel zur Pärchenbildung , bei dem sich Mädchen den passenden Knaben ‚erschießen’, indem sie wie auf der Kirmes mit Bällen oder Luftgewehren Dosen o.ä. umhauen (das war natürlich eine Fantasie von mir, dem alten Spielkind.)

In Wahrheit ist es einfach genau das, was der Name verspricht: Knaben schießen. Und zwar um die Wette. Seit 1991 dürfen zwar auch die Mädchen im Alter von 13 bis 17 mitmachen, aber der Name dieses traditionellen Volksfests wurde deswegen nicht geändert. Naja. „Kinderschiessen“ klänge wohl auch nicht weniger makaber.

Nicht nur der Name dieses Zürcher Feiertags hatte mich neugierig gemacht, die Chilbi (Kirmes) begann quasi gleich hinter meinem Haus, ich sah Familien vor meinem Fenster vorbeipilgern und wollte auch dahin. Und dann habe ich ja auch noch geschworen, hier jeden Schiiss mitzumachen, vor allem, wenn es sich um etwas Schweizerisches handelt (nicht zuletzt um des Blogs willen). Für meinen ausstehenden Beitrag über das Schweizer Essen fresse ich mich also in reiner Pflichterfüllung erstmal an der Budenstraße entlang. Bei den Fahrgeschäften angekommen, ist mir bereits leicht schlecht. Wir kämpfen uns zum Schießstand durch.



Dort sieht es aus wie Krieg. In einer riesigen Halle liegen mindestens 50 Kinder und ballern mit aufgestellten Sturmgewehren auf 300m entfernte Zielscheiben. Auf großen Monitoren werden die Punkte gezählt, das System durchschaue ich allerdings nicht. Aber ich weiß, dass es am Ende einen Schützenkönig geben wird. Es klingt natürlich auch wie Krieg. Am Eingang steht ein Priester, der darauf achtet, dass alle ihren Gehörschutz tragen. Ich frage meinen großen blonden Begleiter, warum da ein Priester ist. Er antwortet trocken: falls einer Amok läuft. (Als ich das später Martin erzähle, wendet er messerscharf ein: Wenn einer Amok läuft, erschießt er als erstes den Priester. Martins Blog zum Thema)



Die Schweizer haben auf jeden Fall eine ganz andere Beziehung zu Waffen als die meisten Deutschen. Quasi die ganze (männliche) Schweiz ist schließlich eine einzige Armee, das heißt, jeder hat irgendein Verhältnis zu seiner Schusswaffe und sei es ein gespaltenes. Zudem dienen laut der Corporal Identity der Schweizer Armee Waffen ausschließlich dem Zweck der Verteidigung und sie sind insofern selbst für politisch korrekte Menschen nicht zwangsläufig pfui. (Die Schweiz wird ja auch nicht am Hindukusch verteidigt, aber dazu vielleicht ein andermal mehr.) Doch wenn ich mir überlege, dass quasi jeder Mann zwischen 20 und 45 ein Sturmgewehr im Keller hat, wird mir schon ein bisschen anders. Im Ernstfall muss man die Waffe gleich in die Hand nehmen können und sollte sich nicht erst am Zeughaus anstellen müssen, so lautet das Argument für die sogenannte Heimabgabe von Armeewaffen.

Leider ist es ja nicht so, dass dabei nichts passiert. Erst vor kurzem wurde hier unter großer medialer Anteilnahme ein junger Mann verurteilt, der, vermutlich ohne das Buch zu kennen, den „Fremden“ von Camus nachgestellt hat. Auch kommt es hin und wieder zu Unfällen im Zusammenhang mit den obligatorischen Schießübungen. Da fängt man schon an, sich zu fragen, ob es nicht längst Zeit wäre für neue Waffengesetze. Doch offenbar sitzt die Schweizer Angst vor plötzlicher Invasion sehr tief; die Reformen brauchen Zeit und sind bei Weitem nicht so konsensfähig, wie man vermuten würde. Immerhin haben die genannten Fälle die Debatte neu befeuert. Und sie waren Auslöser von Sammelaktionen für alte Waffen, die von ihren Besitzern nicht mehr benutzt werden. Skurrile Szenen sollen sich dabei abgespielt haben.

Samstag, 12. September 2009

Neusein

An diesem kühlen Herbsttag sitze ich mit Kaffee und Schweizer Schokolade am Fenster, höre mal wieder Counting Crows und frage mich, was eigentlich das Tolle daran ist, irgendwo neu zu sein. Warum braucht denn der Mensch hin und wieder den sogenannten Tapetenwechsel?

Ich habe mal gelesen, dass die Zeit mit zunehmendem Alter schneller vergeht, weil man weniger Neues erlebt und das Gehirn die Zeit sozusagen in neuen Informationen misst. Und tatsächlich kann man das doch an sich selbst beobachten: Die Monate, die man ohne große Veränderungen den gleichen Job gemacht hat und am Wochenende immer mit den gleichen Leuten in den gleichen Club ging, schieben sich in der Erinnerung gerne zu einer einzigen Woche zusammen. Vielleicht löst also das Gehirn aus einer Art Selbsterhaltungstrieb in regelmäßigen Abständen (die vermutlich von Mensch zu Mensch stark variieren) den Wunsch aus, neue Landschaften und Menschen zu sehen, neue Dinge zu tun und im buchstäblichen Sinn neue Wege zu gehen. Es erklärt aber nicht, warum es für uns auch wichtig ist, hin und wieder als etwas Neues wahrgenommen zu werden.

Es liegt eigentlich auf der Hand. Man ist aufmerksamer und bekommt selbst mehr Aufmerksamkeit. Die Unvoreingenommenheit der neuen Umgebung macht es möglich, plötzlich anders aufzutreten. (O wer einmal jemand Anderes sein könnte!) Und am wichtigsten: gespiegelt in unbekannten und unvoreingenommenen Augen, sieht man sich selbst plötzlich anders. (O wer sich einmal auf den Kopf sehen könnte!) An das Bild, das die alten Freunde von einem haben, hat man sich längst gewöhnt, ja man inkorporiert es förmlich, indem man unbewusst ihre Erwartungen erfüllt. Wir sind so sehr mit dem verwachsen, wie unsere altbekannte Umgebung uns wahrnimmt, dass es keine Möglichkeit gibt, diese Wahrnehmung mal probeweise überzustreifen und sie als etwas Fremdes und Äußeres zu empfinden. Die Gelegenheit, sich selbst auf den Kopf zu sehen, gibt es immer nur für einen kurzen Moment, wenn man neue Leute kennenlernt, am besten so kontextfrei wie möglich.

Wenn ich so darüber nachdenke, scheint mir: Fortgehen ist gar nicht etwas für Mutige und Abenteuerlustige, für Selbstbewusste und Menschen, die mit sich im Einklang sind, sondern es ist etwas für Melancholiker. Für die, die mit sich selbst nicht so richtig klarkommen. Wie Moritz, den ich hier kennengelernt habe; er ist auch Migrant und reist in seiner Freizeit wie verrückt um die Welt. Erst nach einigem Zögern erzählt er mir von seinem Berufsziel, weil das für die meisten klingt wie ein alberner Kindheitstraum: Astronaut. Bei mir bleibt kein Zweifel, dass es ihm nicht allein darum geht, das All zu erforschen (der Weltraum, unendliche Weiten...). Er will vor allem so viel Raum zwischen sich und sich selbst / seine Herkunft zu bringen wie in den Grenzen der heutigen Technik nur möglich. Die Erde aus 40.000 km Entfernung zu betrachten ist in jedem Fall eine neue Perspektive und sicherlich auch eine Art sich selbst auf den Kopf zu sehen.

Beziehige (Misverständnisse II)

Kürzlich erzählte mir ein deutsch-schweizer Pärchen von dem ersten und einzigen Mal, als in ihrer langjährigen Beziehung der Haussegen schief hing. Er verließ gegen 17 Uhr die Wohnung und verabschiedete sich mit den Worten: Bis gleich! Um 20 Uhr wurde sie unruhig, kurz vor zehn rief sie dann bei einer Freundin an und sagte: Mein Freund ist verschwunden, komm wir gehen uns besaufen. Anderthalb Stunden später kam der Anruf von ihm: Ich bin zuhause, wo bist Du? - Ich sitze mit B. am Fluss und saufe. - Au schön, ich komme auch. Er war sich keiner Schuld bewusst.
Der Hintergrund ist: in der Schweiz gibt es keinen Unterschied zwischen „bis gleich“, „bis später“ und „bis bald“, man sagt immer „bis nachher“. Dieser Schweizer machte den Fehler, es einfach immer ins hochdeutsche „bis gleich“ zu übersetzen, auch wenn er eigentlich „bis später“ oder „bis bald“ meinte.

Ich werde in Gesprächen immer wieder gefragt, ob ich denn Mundart verstehe. Das finde ich sehr höflich in jeder Hinsicht: 1. bietet man mir damit an, Hochdeutsch mit mir zu reden und 2. wird mir aber immerhin zugetraut Schweizerdeutsch zu verstehen. Weil ich es ja unbedingt (!) lernen möchte und es für mich also besser ist, wenn die Unterhaltung in Mundart weitergeführt wird, behaupte ich immer, dass ich fast alles verstehe. Obwohl die Rate dessen, was tatsächlich bei mir ankommt, stark variiert (je nach Herkunftsregion, Klarheit der Aussprache und Sprechtempo des Gesprächspartners und je nach meiner eigenen Konzentrationsfähigkeit). Vor drei Tagen erst habe ich auf die Frage nach dem Verständnis wieder eilfertig genickt. Mein Gesprächspartner zwinkerte mir zu und sagte: „Das hat meine Ex-Frau, die Deutsche ist, auch immer gesagt und erst nach Jahren habe ich festgestellt, dass sie gar nichts verstanden hat.“


(Kühe in Graubünden, (c) Mia)

Samstag, 5. September 2009

Falsche Früünde

Eigentlich wollte ich nun endlich mal was über das Schweizerdeutsche schreiben. Doch ich musste mir eingestehen: ich weiß noch viel zu wenig darüber. Weder kann ich die (sehr unterschiedlichen) Deutschschweizer Dialekte zuverlässig auseinanderhalten, noch will es mir gelingen, Sätze oder gar Gespräche zu transkribieren.

Was die Unterschiedlichkeit der Dialekte angeht, so ist ein intensives Zuordnungstraining hier überlebenswichtig. Denn es herrschen tiefgreifende Animositäten zwischen den einzelnen Völkchen, die zumindest für den Außenstehenden vollkommen undurchschaubar sind. Das führt natürlich dazu, dass ein Schweizer unter Umständen sehr beleidigt ist, wenn man seinen Dialekt nicht erkennt und etwa einen Stadtzürcher fragt, wo er denn herkomme. Wenn man einen Zürcher mal richtig ärgern möchte, muss man ihn nur arglos fragen, ob er ein Aargauer sei. Der Aargau ist ein hügelliger Kanton nordwestlich von hier, zwischen Zürich und Basel gelegen. Gegen seine Bewohner gibt es in Zürich viele Vorurteile, zum Beispiel sagt man, dass sie unmöglich Auto fahren und immer weiße Socken tragen. Oft wird „Aargauer“ einfach synonym verwendet für „Landei“ oder „Bauerntölpel“. Noch weniger gern aber hat der Zürcher Basel und die Basler, was dazu führt, dass er auf das Wort „Basel“ gerne mal mit „Was? Wo? Das kenne ich nicht.“ reagiert, so wie ein Gallier, der auf Alesia angesprochen wird. Es könnte sein, dass das etwas mit Fußball zu tun hat, was sich aber schwer verifizieren lässt, da eben keiner drüber redet. Jedenfalls behaupten Zürcher und Basler bei jeder Gelegenheit, dass der Dialekt des anderen arrogant klinge; Basler finden Züridüütsch hart, Zürcher finden Baseldüütsch deutsch, was eigentlich fast das Gleiche ist.

Hier gibt es jedenfalls Haufenweise Gelegenheit in Fettnäpfchen zu treten und es ist mir vollkommen schleierhaft, warum einer der ca. 2000 Benimm-Ratgeber für Deutsche in der Schweiz (habe leider vergessen welcher) dazu rät, bei einem stockenden Smalltalk das Gespräch auf die Dialekte zu lenken, weil dazu jeder etwas zu sagen habe. (Diese Bücher sind übrigens noch ein ganz eigenes Thema… Die Ratschläge klingen meist wie Befehle und nicht selten hat man das Gefühl, man soll auf eine Reise in die hinterletzte Ecke der Erde vorbereitet werden, wo bösartige, unversöhnliche Eingeborene einer seltsamen Religion anhängen und keinen Kontakt zur Außenwelt pflegen.)

Also, da ich über das Schweizerdeutsche noch (lange) nicht schreiben kann, berichte ich zunächst mal von einigen Schweizer-deutschen Missverständnissen. Immer wieder gerne erzählt wird etwa die Geschichte der Bekannten einer Kollegin. Als sie an ihrem neuen Arbeitsplatz in Zürich ankam, zeigte ihr der Hausmeister das Gebäude, gab ihr die Zugangscodes und verabschiedet sich schließlich vor ihrem Büro mit den Worten: „Sie bekommen dann noch ein Telefon von mir“. „O wie schön“, dachte sie, „ein zweites Telefon – vielleicht gar ein Betriebshandy?“ Stolz berichtete sie einer neue Kollegin, dass sie bald noch ein Telefon erhalten würde. Nach einer kurzen Nachfrage brach die Schweizer Kollegin in schallendes Gelächter aus: alles, was die neue Mitarbeiterin vom Hausmeister bekommen würde, war ein Anruf.

Mir wäre beinahe etwas Ähnliches passiert, als mein Chef mir erzählte, dass er an der Abdankung eines wenige Tage zuvor verstorbenen Dichters teilnehmen würde. Ich wollte ihn darauf hinweisen, dass der Mann tot war und daher sicher keinen Wert mehr auf eine förmliche Pensionierung legen würde; doch ich ahnte bereits, dass etwas faul war. Der Verstorbene war ja schließlich kein Politiker gewesen. Es stellte sich heraus, dass Abdankung das hier gängige Wort für Trauerfeier ist. In meinen Ohren klingt es noch immer makaber.

Und hier meine Lieblingsgeschichte: Eine schwangere Kollegin wunderte sich sehr, als sie ihre Mutterschaftsunterlagen unter der Überschrift ‚Buschi Schmidt’ zugestellt bekam. Handelte es sich um eine Verwechslung? Oder kannte die Krankenkasse ihren Vornamen plötzlich nicht mehr? Oder war das etwa ein skurriler Namensvorschlag für das Ungeborene? (Welche Unverschämtheit, noch dazu, wo das doch eher nach einem Pornostar klang, als nach einem respektablen neuen Mitbürger!) Nein, nichts dergleichen. Mein schlaues Büchlein mit schweizerischen Ausdrücken (Susann Sitzler: Aus dem Chuchichäschtli geplaudert. München und Zürich: Pendo, 2008) vermerkt unter Buschi: „Die meisten Buschi haben einen hohen => jöö-Faktor. Das gibt sich automatisch, wenn sie etwas größer werden und sich zu normalen => Goofen entwickeln. In den ersten Jahren findet man sie aber süß. Das gehört sich so für Babys. Buschi bedeutet ‚Baby’ auf Schweizerdeutsch […]“ Dies erklärt zwar einiges, es bleibt allerdings ein Mysterium des Alltags, dass mir noch kein Schweizer begegnet ist, dem dieses Wort geläufig wäre. Das erwähnte „Jöö“ hingegen ist sehr verbreitet und mein absolutes Schweizer Lieblingswort. Es drückt Rührung und Entzücken aus und zwar so gut, dass ich nie wieder „süß“ oder „ach je“ sagen möchte.

Ein richtiger Freund ist übrigens der Schweizer „Kolleg“. In der Schweiz bezeichnet man nur die engen Freunde als Freunde, alles andere sind Kollegen, auch wenn die mit der Arbeit überhaupt nichts zu tun haben. Bekannte wiederum sind dann nur die entfernten Bekannten. Eine Feier mit den Kollegen ist also nicht zwangsläufig eine Betriebsbesäufnis und man sollte auf keinen Fall beleidigt sein, wenn einen der neue Freund, den man von der Arbeit kennt, ‚nur’ als „miin Kolleeg“ vorstellt.

Sonntag, 16. August 2009

Planlos mit Velo

oder Fahrradfahren in Zürich I

Ich hatte mich eigentlich immer für eine großartige Fahrradfahrerin gehalten. Die Kunst besteht neben einer unumstößlichen Balance, welche die Hände am Lenker überflüssig macht und so Rauchen, Telefonieren und Gestikulieren während der Fahrt erlaubt, vor allem darin, ein feines Gespür dafür zu entwickeln, welche Regeln es einzuhalten und welche es zu übertreten gilt. In Berlin, so glaube ich ohne Bescheidenheit sagen zu dürfen, hatte ich dies zur Perfektion gebracht: Im Wesentlichen hielt ich mich korrekt an die StVO, nur im richtigen Moment benutzte ich kurz einen Gehweg oder eine Fußgängerfurt. Nur selten überquerte ich rote Ampeln und wenn, dann nie ohne mich mit einem Schulterblick davon überzeugt zu haben, dass keine Cops in der Nähe waren. Unvergesslich ist mir übrigens der Polizist, der mich anhielt, weil ich an der Kreuzung Mehringdamm/Blücherstraße die Straße bei Fußgängergrün auf der Fußgängerfurt überquerte – und dann auch noch in der falschen Richtung!

Noch bevor ich überhaupt hierher gezogen war, gab es für mich als Radlerin in Zürich ein böses Erwachen. Als ich vor nun schon vier Wochen zum ersten Mal versuchte, das Kreisbüro (Meldestelle) meines neuen Heimatkreises zu erreichen, wurde mir klar, dass meine Berliner Gewohnheiten hier nicht taugten und meine Gewissheit, auf dem Fahrrad schon immer irgendwie durch- und anzukommen, reine Überheblichkeit gewesen war. Die Schmiede Wiedikon, der historische Quartierskern in der Nähe meiner neuen Wohnung, liegt im Auge eines Sturms aus Baustellen und Einbahnstraßen. Da ich noch nicht wusste (und noch immer nicht sicher weiß), welche Regeln man (zumal angesichts einer gefährlichen Engstelle) getrost übertreten kann und welche Abweichungen zur sofortigen Ausweisung einer noch nicht gemeldeten Ausländerin führen würden, versuchte ich mich vollkommen korrekt zu verhalten. Panik erfasste mich angesichts zweideutiger Verkehrszeichen. Alle Straßen, die in die richtige Richtung führten, waren gesperrt. Ich schwitzte Blut und Wasser, bis ich mit Müh und Not den rettenden Hafen des Kreisbüros erreichte. Von meiner Souveränität war nichts geblieben.

Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass Wiedikon das Bermuda-Dreieck von Zürich ist: wer einmal drin ist, findet nie wieder heraus. Seltsame Strömungen bestehend aus kleinen gelben Pfeilen führen ihn so lange in die Irre, bis er vor Erschöpfung zusammenbricht. Hinein geht es seltsamerweise recht gut. Als ich das erste Mal abends mit dem Velo nach Hause fahren musste, sagte ein Zürcher Freund zu mir: es geht doch immer geradeaus! Ich habe ihn fast für verrückt erklärt und war sehr erstaunt, als ich seinen Anweisungen Folge leistend plötzlich vor meiner Haustür stand. Nur hinaus komme ich einfach nicht. Tagelang habe ich enorme Umwege auf mich genommen und neue Stadtviertel erkundet, weil ich glaubte, die kleinen gelben Pfeile seien alle für mich gemacht, und als anpassungswillige Zugezogene, wagte ich es nicht, sie zu ignorieren. Wie ein Stück Treibholz folgte ich den Strömungen, die mich weiter und weiter vom Kurs abtrieben.

In meiner Not griff ich dann bald zu dem billigen Trick, das Viertel einfach in der entgegengesetzten Richtung zu verlassen und so den Todesstrudel weiträumig zu umfahren. Dabei muss ich durch ein Quartier mit dem schönen Namen „Enge“. Ich war sehr überzeugt, dass die Bezeichnung nicht von „eng“ herrührt, sondern von einem Gebirge namens Engimatt. Schließlich gibt es in Enge auch die Engimattstrasse (ich lese noch immer: Enigma…) und schließlich denke ich bei „Matt“ sofort an Berge: Matterhorn, Zermatt und … mehr fällt mir grade nicht ein. Doch ich musste mich bald eines besseren belehren lassen. „Enge“ kommt tatsächlich von „eng“ und bezieht sich auf die Enge zwischen dem ehemaligen Seeufer und einem Hogger (Hügel). Und „Matt/Matte“ heißt keinesfalls Berg, sondern Wiese, eine solche kann sich natürlich am Hang befinden oder in der Ebene. Im Fall des Matterhorns befindet sie sich übrigens am Fuße des Berges; es handelt sich also nicht etwa um einen schneebedeckten fiktiven Garten, wie den vom Vreneli.

Nun durchquere ich jeden Tag die Enge, grüße hinter dem Bahnhof die Schafe, die dort auf einem Hang mitten im Wohngebiet weiden, und freue mich auf dem Heimweg bei Regen über einen dampfenden Üetliberg. Immer wieder versucht ein freundlicher Zürcher mich darauf hinzuweisen, dass es doch viel schlauer wäre, die Sihl nördlich von meiner Wohnung zu überqueren und so das Viertel direkt in Richtung Innenstadt zu verlassen. Doch ich lasse mich nicht mehr ins Bockshorn jagen: ich weiß genau, in dieser Richtung gibt es keinen Fluß, sondern nur Stadtautobahnen und jede Menge kleiner gelber Pfeile, die wie Irrlichter meinen Untergang betreiben.


dampfender Üetliberg bei Regen von Enge aus gesehen

Samstag, 15. August 2009

Nachtrag zum "Schwarzen Tag"

Einige Tage später:
Seit ich gehört habe, was hier Handwerker verdienen (zurecht! können sie hier von der schweren körperlichen Arbeit noch leben und eine kleine Familie versorgen), stelle ich mir vor, ich werde Zimmermann, wenn bald die Lektoren aussterben. Eigentlich heißt das, glaube ich, Zimmerin bei Frauen. Das wollte ich heimlich schon immer. Die haben die besten Arbeitsklamotten und man kann auf die Walz gehen.

Meine Mutter hat zwischen den Büchern meiner Großeltern ein kurioses altes Heftchen mit dem Titel „Schweizer Witz“ (gesammelt von Fritz Herdi, Ernst Heimeran Verlag 1968) gefunden und mir geschickt. Dass die Witze überhaupt nicht lustig sind, liegt vermutlich an meiner mangelnden Kenntnis der regionalen Eigenarten. Befremdlich sind aber auch die Übersetzung ins Hochdeutsche und die Anmerkungen für Nicht-Schweizer. Vermutlich werde ich noch öfter daraus zitieren. Hier kommt jedenfalls ein Geschichtchen, das ich gestern bei der Toilettenlektüre durch Zufall (!) entdeckt habe (Anmerkung von Fritz Herdi):

„Handwerker führen Reparaturen an der Fassade des Zürcher Stadthauses aus. Der Stadtpräsident kommt gegen neun Uhr des Wegs und ruft leutselig hinauf: ‚So, was macht ihr denn da oben?’ ‚Znüniessen!’ (Zwischenverpflegung um neun Uhr). ‚Donnerwetter meint das Stadtoberhaupt, ‚ihr habt’s aber gut!’ ‚Na ja’, schallt es vom Gerüst herunter, ‚hätten Sie etwas Richtiges gelernt, so könnten Sie jetzt auch futtern!’“

Mittwoch, 12. August 2009

Schwarzer Tag

Dieser Montag beginnt mit der Nachricht, dass der Verlag, in dem ich arbeite, im nächsten Jahr schließen wird. Der Schock sitzt tief und meine Immigranteneuphorie erhält einen schmerzhaften Dämpfer. Zu behaupten, dass ich nun Zürichs Schattenseiten kennengelernt und seine dunklen Geheimnisse gelüftet habe, ginge vielleicht ein bisschen weit. Doch ich muss erkennen, dass die Stadt eben doch kein Paradies ist, kein geschütztes Eldorado für Kunst und Kultur, wo traditionell arbeitende unabhängige Kleinverlage noch hochwertige und hochpreisige Juwelen herausbringen können, ohne sich um die Zwänge des Marktes zu scheren.

Zürich schützt nicht vor Arbeitslosigkeit und ich bin mir sicher, dass es sich in keiner Stadt der Welt als Arbeitloser schlechter lebt als hier, wo alle anderen Beschäftigung und genügend Geld haben. Nicht wie in Berlin, wo man quasi unter seinesgleichen wäre, weil fast alle arbeitslos sind oder Freiberufler, die dann trotzdem erst um halb elf aufstehen, den ganzen Tag in Cafés rumhängen und eventuell auch von HartzIV leben. Eigentlich sind der einzige Unterschied die MacBooks. In Zürich rekrutiert sich vermutlich das gesamte Prekariat aus mir und einer Handvoll anderer Verlagsvolontäre von Kleinverlagen. Grund zur Panik gibt es eben doch überall, auch in Zürich.

Es ist ein schwarzer Tag nicht nur für mich und meine Kollegen, sondern für die gesamte deutschsprachige Literaturlandschaft. Die Schließung hat nicht in erster Linie wirtschaftliche Gründe und doch kündet sie als Fanal von einschneidenden Veränderungen in der Verlagswelt. Mir wird klar, dass ich mich auf einem sinkenden Schiff befinde: mein Lebenstraum ist ein Beruf, den es bald nicht mehr geben wird. Melancholie bei 30 Grad.

Dieser Montag endet mit einer Blutlache an der Haltestelle Waffenplatzstraße. Unfälle gibt es überall, auch in der Schweiz, wo alles geordnet und geregelt ist. Dennoch erscheint mir das rote Blut an diesem Abend wie ein wichtiges Zeichen. Nur kann ich es nicht entziffern.

Sonntag, 9. August 2009

Street Parade: Techno ab ins Altersheim?



Jedes Jahr im Spätsommer teilt sich die Zürcher Bevölkerung für ein Wochenende in zwei Lager, die sich mit völligem Unverständnis, wenn nicht gar mit Feindschaft begegnen. Während die eine Hälfte der Stadtbewohner bereits am Donnerstagabend panisch ins Hinterland aufbricht, freuen sich die anderen schon das ganze Jahr auf drei Tage Party. Als ich ahnungslos an eben jenem Wochenende meine Einweihungsfeier ansetzte, erntete ich von letzteren entsetzte Reaktionen. „Aber da ist doch Street Parade!“ – „Die ist doch am Samstag, meine Feier am Sonntag!?“ – „Aber da sind wir doch müde!!!“ Diejenigen meiner Freunde, die zur anderen Hälfte der Zürcher gehören, zeigten sich deutlich kooperationsbereiter, indem sie alle versprachen, ihre Kurztrips zu verkürzten, um am Sonntagabend rechtzeitig zum Brätele (Grillen) bei mir zu sein.

Ich war ja eigentlich der Meinung, Techno-Paraden seien kurz nach der Jahrtausendwende untergegangen. Doch in Zürich, so lasse ich mir sagen, sei das alles ganz anders. Hier kämen immer noch jedes Jahr 1 Million Menschen zu einer solchen Veranstaltung; hier wäre das noch nicht kommerzialisiert, jedes Love Mobile gehöre zu einem Zürcher Club oder höchstens zu einem Radiosender (und sei also nicht nur Werbeträger für multinationale Getränkehersteller o.ä.) und – am wichtigsten: hier sei es noch eine Party der Techno-Fans und kein Familienfest wie ihn Berlin, wo es einfach zu viele kleine Kinder gäbe. In Berlin sei die Love Parade also an der Verbürgerlichung der Fans zugrunde gegangen, höre ich heraus. Mit meinen zugegebenermaßen provokativen Einwand, dass vielleicht die Street Parade noch am Leben sei, weil die Schweiz hier wie in anderen Dingen (sagt zumindest das Klischee) einfach zehn Jahre Verspätung habe, ernte ich nur eisiges Schweigen.

Also will ich der Sache eine Chance geben: feiert man hier tatsächlich lebendiger, anarchischer und bunter als bei allen anderen Techno-Events? Die Vorabrecherche auf der offiziellen Website des Vereins bringt Ernüchterndes zu Tage. Unter der Rubrik „Tun und Lassen“ werden nicht nur Wasserpistolen und Trillerpfeifen geächtet, nein es wird auch vor Alkohol und Drogen gewarnt (vor allem in Kombination), es wird dazu aufgefordert Ohren vor Lärm und Wangen vor Sonneneinstrahlung zu schützen, nicht an Hauswände zu pinkeln und immer schön nett zueinander und auch zur Stadtausstattung zu sein („keine kletterübungen: An der Parade könnt Ihr zwar ruhig abheben, aber bitte verschont die Ampeln, Verkehrssignale, Bäume und Wartehäuschen.“). Und auch die Stadt tut ihren Teil, um Ordnung zu bewahren: Jene Bäume und Büsche entlang der Strecke wurden bereits vor Tagen mit Bauzäunen weiträumig abgeriegelt (damit sollte es zwar gelingen, das Besteigen weitgehend zu unterbinden, die durchschnittliche Pissweite eines biergefüllten Paradisten wurde jedoch signifikant unterschätzt). Ein seltsames Bild ist das im Vorfeld: das Grün so geschützt zu sehen vor einem noch gar nicht vorhandenen Angriff. Es ergreift mich die Vermutung, dass vor allem geordnet gefeiert wird.

Am Tag der Parade selbst, regnet es bereits morgens in Strömen. Nur aus Pflichtbewusstsein kämpfe ich mich durch die abgesperrten Seitenstraßen bis zum See vor, von wo laute Musik zu hören ist (übrigens meist nur wenige, zum Teil altbekannte Hits und kein innovativer Anarcho-Sound). In der Seehofstrasse stehen zwei junge Männer mit griesgrämigen Gesichtern und nackten Oberkörpern unter einem Vordach und wringen gemeinsam ihre T-Shirts aus. Die Räume zwischen den Love Mobiles sind weit und nur wenige Tänzer bieten dem Wetter hartnäckig die Stirn, oben ohne oder mit Plastiküberzug. Durch den Regen ist es, als hätte jemand im Club das Licht angemacht: man kann sich nicht in Alkoholrausch und blendendem Sonnenschein verlieren, sondern muss in der grauen Nässe gnadenlos erkennen, wie absurd das eigene Tun ist. Natürlich haben auch hier die großen Getränkehersteller ihre Finger im Spiel und die Aufforderung "Enjoy Heineken responsibly" an den grünen Ständen, erscheint mir ziemlich schizophren und enthält gleich zwei Dinge, die wenn nicht gleich nicht lebendig, so doch zumindest in keiner Weise anarchisch sind: Kommerz und maßvolle Ordnung. (Tatsächlich landen nur 63 von 600.000 Besuchern wegen zuviel Alkohol bei den Sanis. Nur wenige mehr als wegen Unterkühlung behandelt werden mussten...) Ich besichtige noch andere Orte, doch nur an einer Stelle kann mich die Stimmung kurz packen: an der Münsterbrücke spielt jemand Techno unplugged. Und obwohl die Hauptschuld sicherlich den Regen trifft, bleibt bei mir das Gefühl zurück, dass das Paradesterben auch die Schweiz bald erreichen könnte.


Regenschutzlösungen bei Street Parade-Besuchern

Mittwoch, 29. Juli 2009

Zwanghaft in Zürich



„Panik“ verkündet das Dach vom Binz-Squat ganz in meiner Nähe. Und tatsächlich müssen die Bewohner und Nutzer dieses wunderschönen Fabrikareals eine Räumung fürchten (hier dagegen sein). Doch ich habe ganz frisch ein Dach über dem Kopf und brauche eigentlich keine Angst zu haben in Zürich. Oder?

Ich denke nun schon eine ganze Weile obsessiv darüber nach, ob ich eigentlich etwas beunruhigend finde in Zürich. Jede Stadt, die ich in meinem Leben ein bisschen besser kennengelernt habe, hatte ein dunkles Geheimnis. In Stuttgart waren das provinzielle Engstirnigkeit und schwäbische Indiskretion; in Ouagadougou üble Nachrede und die schwer bewaffneten Polizisten/Gendarmen/Militärs und wie sie alle heißen. Und in Berlin – tja, da weiß ich gar nicht wo ich anfangen soll. Wobei Berlin aus seinen Schattenseiten meist kein Geheimnis macht, im Gegenteil, es werden sogar Hymnen auf sie gedichtet („Guten Morgen Berlin, Du kannst so hässlich sein, so dreckig und grau, du kannst so schön schrecklich sein, Deine Nächte fressen mich auf.“) Was mich persönlich an Berlin am meisten beunruhigt, sind vermutlich all die anderen Beunruhigten und Getriebenen, die Selbstgespräche führend durch die Straßen wandern. Ihre schiere Zahl und ihre Aggressivität erschrecken mich.

In Zürich habe ich seit meiner Ankunft die Verrückten minutiös gezählt. Mit erstaunlicher Regelmäßigkeit treffe ich eine/n pro Tag. Nur einer ist mir ein zweites Mal begegnet, dafür hatte er beim ersten Mal einen Kumpel dabei. Heute habe ich noch keinen gesehen, aber der Tag ist ja noch nicht zu Ende. Niemand hat mich bisher persönlich angesprochen oder beleidigt, ich wurde nicht grundlos als Schlampe beschimpft oder geschupst wie in Berlin gerne mal. Ich denke, ein mit sich selbst Redender am Tag wird mich nicht aus der Ruhe bringen.

Eine Berliner Freundin findet die Schweizer Sauberkeit beunruhigend. „Man bekommt schnell das Gefühl, man müsse da mitmachen.“ Doch ein vor sich hin gammelnder Kühlschrank und eine weggeworfene PET-Flasche auf einem Wiedikoner Gehweg beruhigen sie wieder. Vielleicht ist die Schweiz gar nicht so sauber und ordnungsliebend wie ihr Ruf?

Ich empfinde Sauberkeit und Ordentlichkeit (bis jetzt) keineswegs als steril und autoritär und beunruhigend, sondern geradezu als erfrischend. Voller Demut bin ich bereit, meinen Wochenrhythmus dem rigorosen Waschtag- und Müllabholtagsystem anzupassen. Ich werde den Papiermüll brav in Päckchen schnüren und meine Zürisäcke erst am Montagmorgen rausstellen. Vermutlich treffen diese Schweizer Eigenheiten aus mehreren Gründen bei mir auf Gegenliebe: 1. mein Willen zur Unterordnung, 2. meine Liebe zu Strukturen und Systemen und 3. meine schwäbischen Wurzeln. Einiges, was ich in Stuttgart aus Gründen der noch nicht ganz abgeschlossenen jugendlichen Rebellion einfach ablehnen muss (Kehrwoche, Idylle), erlaube ich mir in der Zürcher Ausprägung gut zu finden und cool und exotisch.

Doch wo liegt dann Zürichs dunkles Geheimnis? Welches ist der Haken, welches ist der Grund, dass Zürich 2009 nach 8 Jahren von Platz 1 der Mercer-Studie für Lebensqualität verdrängt wurde? Ich werde es herausfinden. Noch warten zahllose unentdeckte Welten (Arbeitswelt) auf mich, neue Stadtviertel und andere Jahreszeiten.


(Gruselige Street Art auf der Manessestrasse.)

Dienstag, 14. Juli 2009

Der Morgen nach der Zukunft

Zürcher und Zürich-Kenner werden bei dieser Formulierung wissend lächeln, manch anderer fühlt sich vielleicht an Achtziger-Jahre-Zeitreise-Geschichten oder Nuller-Jahre-Katastrophenfilme erinnert. All diesen sei erklärt: in Zürich ist die Zukunft ein Club, vermutlich der bekannteste der Stadt. Und so ist der Morgen nach der Zukunft wohl meist ein von Kopfschmerzen und verschwommenen Erinnerungen geprägter.

Im Übrigen geht man in Zürich abends nicht aus, sondern man geht „in den Ausgang“ – eine Formulierung, die mich sofort an Gefängnishöfe denken lässt. Und tatsächlich begann eines meiner ersten Zürcher Ausgeh-Erlebnisse auf einem Kasernenhof, nämlich letzte Woche beim Caliente-Festival. Ich befand mich noch auf Wohnungssuche und trug quasi immer und überall meinen Laptop mit mir herum, um bei jeder Gelegenheit im Netz nach neuen Angeboten zu suchen. Und nicht nur wegen der riesenhaften und schweren roten Laptoptasche auf meiner (riesenhaften und schweren) Hüfte fühlte ich mich dort als Fremdkörper. Aufgedrehte, leicht bekleidete Latino-Frauen bewegten sich zu sogenannten heißen Rhythmen und trotz meiner fröhlich-interessierten Laune schien mir das alles ein bisschen aufgesetzt zu sein. Nach einem dort erstandenen Dosenbier brauchte ich sehr dringend eine Zigarette und ein bisschen Abstand und so versuchte ich mich unauffällig abzusetzen. Doch ich war nicht die einzige in der Gruppe, die es fortzog: eine Schwester im Geiste bot sich an, mir die sagenumwobene Langstrasse zu zeigen.

Immer wenn ich Zürich-Kenner gefragt hatte, wo man hinziehen könne, hatte die einmütige Antwort gelautet: nicht in die Langstrasse, da gibt es Prostituierte, Drogen und Einbrüche. Ohne die Zürcher Dogenszene verharmlosen zu wollen, muss ich doch gestehen, dass mir die Gegend an diesem noch hellen Sonntagabend und verglichen mit dem Kottbusser Tor fast idyllisch erschien. Durch ruhige Seitenstraßen mit schmucken Wohnhäusern gelangten wir auf die verrufene Meile. Dort flüchteten wir vor einem sich mit heftigen Windstößen ankündigenden Gewitter in den Longstreet Club, wo ich endlich zu meiner ersehnten Zigarette kam. Ich bestellte mein Panache so, wie ich es aus meinem Stammcafé gewohnt war: ein Bier und ein Glas Sprite bitte. Das nun folgende Ritual des Zusammengießens führte zu großer Erheiterung bei meiner Begleitung und dem Barpersonal. Ich hätte mein Radler auch direkt haben können – nur im Emo wird selbst gemischt, weil es kein Fassbier gibt. Und ich hatte an diesem meinem vierten Tag in Zürich noch geglaubt, es handle sich um ein Exotengetränk, das man hier kaum kenne und das ich deshalb von Hand und vor aller Augen selbst zubereiten müsse. Aber nicht nur wegen meiner Gläser-Menagerie fielen wir Frauen in dem Raum voller gut aussehender und leicht bekleideter Männer auf: wir hatten die Gay Night erwischt.

Nun, an dem Abend in der Zukunft bin ich schon viel routinierter und trinke von vorneherein ungestrecktes Bier, weil zum richtigen Ausgehen auch ein richtiger Schwips gehört. Für meine Begleitung bestelle ich süß gespritzten Weißwein (Weißwein + Sprite + Zitronenstücke – die Schweizer kennen sich eben doch aus beim Panschen!), erhalte jedoch etwas, das verdächtig nach Wodka-Lemon aussieht und auch so riecht. Sie trinkt es trotzdem. Das Bier kommt in der Zukunft im Plastikbecher, aber ansonsten gibt es nichts auszusetzen. Die Musik ist funky, das Publikum angenehm fröhlich und locker. Die Dekoration aus Tausenden von Discokugeln gefällt mir sehr und fast möchte ich eine fotografierende Touristin bitten, mir das Bild zu mailen, denn diesmal bin ich ohne rote Tasche unterwegs: kein Laptop und keine Kamera. Das Beste an der Zukunft aber ist ihr Name, denn nun werde ich regelmäßig sagen können: Ich war gestern in der Zukunft. Auch wenn der Preis dafür immer ein Morgen danach ist.

Sonntag, 12. Juli 2009

Woher kommt die Limmat?

Noch am Vorabend meiner Abreise nach Zürich habe ich mit meinem Vater diskutiert: fließt die Limmat in Zürich aus dem See heraus oder in ihn hinein? Natürlich hatte mein Vater recht. Wie ich auf die Idee kam, dass die Limmat nach Süden flösse, in den See hinein und somit auf die Berge zu – ich weiß es nicht mehr. Vielleicht der uralte Schüler-Aberglaube, dass der Süden unten ist und logischerweise alle Flüsse nach Süden fließen?

Jedenfalls habe ich die Fließrichtung der Limmat schon wenige Tage nach der Diskussion am eigenen Leib erfahren. Auf einem meiner Streifzüge durch die Stadt stieg ich (auf der Suche nach dem grünen Flecken auf dem Stadtplan) von der Haltestelle Beckenhof hinab zum Fluss. Nach Treppen und Biegungen trat ich vor eine Brücke, auf der ungefähr 10 junge Männer in Badehosen standen und einer nach dem anderen in den Fluss sprangen. Ungefähr 50 Menschen trieben vor meinen Augen vergnügt flussabwärts – wohlgemerkt vom See weg. Ich sah dabei zu und dachte, dass das offensichtlich etwas ist, was man in Zürich tun muss. Also brachte ich meinen Laptop in Sicherheit, zog meinen Badeanzug drunter und probierte es selbst.

Und die Limmat fließt nicht nur vom See weg, sondern sie tut dies auch noch mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit. Schwimmen kann man in ihr eigentlich nicht – entweder müht man sich wie ein Hamster im Rad gegen die Strömung ab und bleibt nur mit großem Energieaufwand auf der gleichen Höhe oder man nutzt sie als riesenhafte Rutschbahn: oben reinspringen, weiter unten wieder rausklettern und – nochmaaal!

Die Limmat fließt also in Zürich aus dem Zürichsee hinaus, genau wie mein Vater gesagt hat. Der See wiederum wird hauptsächlich aus der Linth gespeist, die im Tödi-Massiv entspringt. Den Tödi kann man wahrscheinlich bei klarer Sicht von Zürich aus hinter dem See sehen. Allerdings ist mir noch niemand begegnet, der behauptet, ihn auch zu erkennen. Der Normalo-Zürcher erkennt allenfalls Vrenelisgärtli, ein Gipfel mit einem weithin sichtbaren Schneefeld. Dort versuchte, so geht jedenfalls die Sage, einst ein armes hungriges Mädchen namens Verena (Vreneli) einen Garten anzulegen und wurde für diese Hybris bestraft, indem sie und ihr Garten unter ewigem Schnee begraben wurden. Laut Wikipedia war der Schnee allerdings nicht so ewig wie vielleicht vom strafenden Gott beabsichtigt: 2003 sei das Firnfeld abgeschmolzen; die Unglückliche wurde jedoch nicht gefunden.

Und wo geht sie eigentlich hin, die Limmat? Sie mündet bei Lauffohr in die Aare. Diese fließt durch Bern und mündet bei Koblenz in den Rhein. Und der Rhein fließt in den Niederlanden im Rhein-Maas-Delta in die Nordsee. Vielleicht sollte ich also mal versuchen eine Flaschenpost nach Rotterdam abzuschicken?

Freitag, 10. Juli 2009

Kaffee, Gipfeli und Panache

Nach einer Woche in Zürich habe ich bereits ein Stammcafé und mindestens fünf Lieblingsplätze. Ich bin zu einer ernsthaften SP-Sympathisantin geworden (die sozialdemokratische Partei, die, wie mir versichert wurde, schon noch links sei und grün, anders als die deutsche SPD), ich bin einem Aerobic-Club beigetreten, bei dessen Treffen wir zu dritt vor einem Laptop herumhüpfen, aus dem uns eine dauergewellte Animateurin „Sehr gut!“ und „Feste!“ zuruft; ich wurde schon auf ein Grillfest eingeladen, war auf zwei verschiedenen Festivals und in zwei Clubs. Die vielbeschriene Schweizer Reserviertheit ist mir noch gar nicht begegnet. Vielleicht war es meine offene und doch zurückhaltende Art (das sagen andere über mich). Wahrscheinlich hatte ich einfach nur Glück.


An meinem ersten Morgen in Zürich brauchte ich dringend zwei Dinge: einen guten Kaffee und einen Internetzugang. Ich stolperte aus der Tür meiner Pension und keine 50 Meter weiter warb ein Café mit gratis W-LAN. Ich bestellte einen Kaffee und ein Gipfeli (Croissant) und begann mit Laptop und Stadtplan zu hantieren – auf der Suche nach einer Wohnung. Die Café-Betreiberin sprach mich an und eine halbe Stunde später hatte sie mir bereits ein Zimmer als Übergangslösung angeboten. Am Abend sollte ich wiederkommen, dann würde mir ihre Schwester die Wohnung zeigen.


Als ich nach einem langen, heißen Tag voller trostloser Wohnungsbesichtigungen zurückkam, müde, aber noch geschäftsmäßig angespannt (schließlich galt es noch eine Besichtigung zu absolvieren), da wurde mir zum ersten Mal der Zauber des Emo zuteil. Setz Dich erst einmal, sagte die Schwester, trink etwas. Die Anspannung des Tages fiel von mir ab, wir verschoben die Besichtigung und ich bestellte ein Bier. Man stellte mich den anderen Stammgästen vor, wir unterhielten uns über Deutsche in Zürich, übers Zürideutsche, über Wohnungen und alles mögliche, es wurde auch viel gescherzt und gefrotzelt. Ich lernte mein Lieblingsgetränk zu bestellen (nämlich „Panache“ - Radler) und blinzelte glückselig vor mich hin, froh, dass ich diesen Abend nicht alleine verbringen musste und dass der Alkohol und die Gesellschaft die Erinnerungen an die hässlichen kleinen Mansardenzimmer mit Fluglärm vertrieb.


Mit einem Mal hub ein vielstimmiges Hallo an. Ein großer Blonder mit wilden Locken wurde freudig begrüßt; in seinem Schlepptau eine beschwingte Gruppe schöner Menschen, die wild diskutierte. Es musste sich wohl um Künstler handeln, vermutlich eine Theatergruppe, vielleicht Musiker. Die Beschwingten setzten sich zu uns, isolierten mich von meinen Gesprächspartner und hinderten mich mit freundlichen Frotzeleien am Gehen. Zu meiner Überraschung war es nicht die Kunst, sondern die Politik, die sie zusammengeschweißt hatte. An meinem Tisch saßen Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei. Der Abend endete damit, dass ich für den nächsten Tag zum Grillfest der SP eingeladen wurde – einem Grillfest übrigens, das mir nicht nur die schönste Aussicht der Stadt bescherte (beim Aufstieg zum Waidbad), sondern bei dem ich mich auch keine Sekunde unwohl gefühlt habe, obwohl ich sicher die einzige Deutsche und vielleicht sogar das einzige Nicht-SP-Mitglied war.



Donnerstag, 9. Juli 2009

Ankommen in Zürich

Es gibt das Gerücht, dass man als DeutscheR in der Schweiz nicht willkommen sei. Als ich zuhause in Berlin stolz verkündete, dass ich nun bald meinen Traumjob in Zürich antreten würde, wurde ich vor zwei Dingen gewarnt: dem Zürcher Wohnungsmarkt und der Ablehnung der Schweizer gegenüber deutschen Immigranten.

Auch in der Presse ist der (angebliche) Deutschenhass der Schweizer immer wieder Thema. „Du bist geduldet, aber nicht willkommen.“, schrieb Ivo Marusczyk in der ZEIT vom 14. Mai 2009 (hier nachlesen). Ein Artikel übrigens, über den sich die Schweizer sehr geärgert haben, zumindest einige, die ich kenne.

Ich bin erst seit einigen Tagen in Zürich und fühle mich hier so willkommen wie es nur geht. Der Staat tut sein Bestes, um es mir einfach zu machen. In Deutschland muss ein (außereuropäischer) Einwanderer zur Ausländerbehörde, er wird von Behörden und Gesellschaft als „Ausländer“ bezeichnet, ein Wort, dem man die Ausgrenzung richtiggehend anhört. In der Schweiz bin ich eine Migrantin, eine Bezeichnung, die mir gefällt. Ein Migrant ist jemand, der in Bewegung ist, der umzieht ("zügelt"), der modern ist und flexibel, wie es der globalisierte Arbeitsmarkt von ihm verlangt. Dass das Wort „Migrant“ zumindest in Deutschland mittlerweile gerne auch mal pejorativ verwendet wird und in dieser Verwendung den „Asylanten“ der 90er Jahre ersetzt hat, ist wiederum eine andere Geschichte.

Als Migrantin muss ich hier jedoch keinesfalls aufs Migrationsamt (das eben nicht Ausländer… heißt), sondern es reicht eine einfache Anmeldung im Kreisbüro. Dafür brauche ich noch nicht einmal einen deutschen Reisepass (den ich im Moment nicht besitze), sondern es genügt ein Personalausweis. Ich muss mich gegenüber der Verwaltung zu keinem Zeitpunkt dafür rechtfertigen hier zu sein und mein Arbeitgeber musste nicht nachweisen, dass er für meinen Job keinen Schweizer gefunden hat. Stattdessen werde ich hier noch mit einer Stadtführung und einem Apero begrüßt.

Ein Deutscher, der die Schweiz rassistisch nennt, war einfach noch nie auf einer deutschen Ausländerbehörde. Aber um Herrn Marusczyk und den anderen Warnern hier nicht Unrecht zu tun, muss auch gesagt werden: es ging ihnen wohl nicht um den institutionellen Rassismus, sondern um die täglichen Begegnungen auf der Straße, beim Bäcker, im Restaurant und bei der Arbeit. Doch auch was das angeht, kann ich nur Positives berichten!

Und von diesen - bis jetzt fast unwirklich schönen - Erlebnissen in Zürich will ich ab jetzt an dieser Stelle erzählen, nicht nur darüber wie herzlich und unvoreingenommen mich die Menschen hier aufgenommen haben, sondern auch über tolle Plätze in Zürich über Skurriles und Merkwürdiges und über alles, was noch so kommen mag. Die Warnung vor dem Zürcher Wohnungsmarkt war übrigens durchaus berechtigt. Dazu bald mehr. ***