Freitag, 1. Juli 2011

Wundertag

Auf dem Nachhauseweg sind mir heute einige merkwürdige Dinge begegnet. Wenn das ein Film wäre, würden sie mir sagen, dass der Mann, den ich gestern verlassen habe, doch der Richtige für mich ist. Wenn das ein Kinderbuch wäre, würden sie mir sagen, dass ich heute Abend oder spätestens morgen früh Besuch von einem bizarren Wesen bekomme und ich mir schon einmal überlegen sollte, was ich mir wünschen werde.

Ich muss mir allerdings gar nichts überlegen. Ich weiß zu jedem Zeitpunkt meines Lebens, was ich mir wünschen würde. Ich finde Menschen seltsam, die das nicht wissen – so als wäre es nicht das Allerwichtigste, sofort einen Wunsch parat zu haben, wenn es eine Gelegenheit gibt. Rosa Autos sollen gute Glücksbringer sein, besonders alte. Und natürlich auch Sterne: der Abendstern und Sternschnuppen. Flugzeuge tun’s auch, wenn sie als erstes Licht am Himmel auftauchen und wie Sterne aussehen. Man kann sich auch in Tunnels etwas wünschen, wenn man die Füße hochhebt und dabei den Atem anhält, habe ich mal gehört. Natürlich, wenn man Geburtstagskerzen ausbläst und einen Milchzahn verliert. Oder vielleicht wird man einfach nur von einem geliebten Menschen gefragt, was man sich wünschen würde, wenn eine gute Fee vorbeikäme. Dann muss man doch etwas antworten können! Wie öde wäre es denn, zu sagen: Möh, keine Ahnung... Und was würde das über einen aussagen? Wünschen ist Ausdruck von Hoffnung, Wünschen ist immer ein Blick in die Zukunft, wie irreal er auch sein mag. Nur innerlich tote Menschen wissen nicht, was sie sich wünschen würden.

Auf dem Nachhauseweg heute begegnete mir ein Bauarbeiter oder ein Verkehrstechniker in einer kurzen Hose, aus orangefarbenem, reflektorbewehrtem Schutzjackenstoff – so wie diese Jacke hier. Und ich habe mich gefragt, ob die Schweizer Bahn oder die Zürcher Verkehrsbetriebe eine extra Schutzkollektion für den Sommer herstellen lassen oder ob die Bauarbeiter- oder Verkehrstechnikergattin auf diese gewitzte Variante für die heißen Tage gekommen war und diese auf ihrer Bauarbeiter- oder Verkehrstechnikergattinnennähmaschine selbst hergestellt hatte. Und wie sieht es eigentlich mit der starkstromableitenden Schutzwirkung aus, wenn nur noch das halbe Bein bedeckt ist? Und was wusste die Bauerbeiter- oder Verkehrstechnikergattin darüber? Ist die Hose ein Liebesbeweis oder ein ausgeklügelter Mordversuch?

Auf dem Nachhauseweg heute begegneten mir des Weiteren zwei Tauben, die obwohl gesund aussehend, mitten auf der Straße beieinanderstanden und dort einfach stehenblieben und mich aus schwarzen Perlenaugen fragend anguckten, als ich sie mit dem Boden meiner vom Fahrradlenker baumelnden und mit Salat und Milch und Bier prall gefüllt Coop-Papiertüte streifte. Diese Papiertüten heißen hier Sack und im Gegensatz zur kleinen Plastiktüte (Säckli) bekommt man sie nicht umsonst angeboten. »Säckli welle?«, lautet die notorische Supermarktfrage, über die die meisten (nur) des Hochdeutschen mächtigen Touristen hier immer stolpern. (Es gibt noch eine zweite, die ich allen potenziellen Besuchern schon einmal erklären möchte: »Subbrkahd?« oder wahlweise »Kchummulus?« - Das sind Schweizer Payback-Systeme, die man als Besucher nicht verstehen muss. Einfach mit »Nä-ä« antworten, dann sind Sie auf der sicheren Seite.)

»Säckli welle?«, heißt auf Hochdeutsch »(Haben Sie) eine kleine Tüte gewollt?«. Ich befürchte immer, dass, wenn ich Ja sage, mir geantwortet wird: »Tja, nun ist es zu spät. Pech gehabt.« Im Märchengarten des blühenden Barock in Ludwigsburg – einem von zwei beliebten Grundschulausflugszielen (CH: Primarschulausflugszielen) in der Umgebung von Stuttgart - gab es früher einen Turm mit der Station »Rübezahl« darin: Man stand dort vor einem Gitter, hinter dem die (Pappmaché-)Felswand verführerisch glitzerte. Eine donnernde Stimme fragte aus dem Off: »Willst du Gold und Edelsteine?« Wenn man dann Ja sagte (oder auch irgendetwas anderes oder auch gar nichts), kam sogleich die fiese Antwort: »Aber du bekommst Sie nicht. Huahuahuahua....« Es würde mich interessieren, ob Kinder heute noch immer diese hochinteressante Lektion lernen – und mit Lektion meine ich jetzt nicht: Man kann nicht alles haben. Sondern die überraschende Feststellung, dass im allgemeinen Sprachgebrauch die Frage impliziert, dass man Gold und Edelsteine oder eben Säckli zu vergeben hat, dass also wörtliche Bedeutung und pragmatische Bedeutung sich unterscheiden können.

Liebe und Tod liegen nahe beieinander, in der Literatur und auf der Straße, wo eine vielleicht gutgemeinte kurze Schuzhose vielleicht eines Tages einen Bauarbeiter oder Verkehrstechniker töten wird und wo verliebte Tauben mit fragendem Blick das Auto anglotzen, das sie gleich überrollen wird. Im Kinderbuch wird nicht so viel gestorben, dafür darf man sich etwas wünschen, wenn man merkwürdige Dinge sieht. Ich wünsche mir etwas, ich weiß auch schon was, aber verraten darf ich es natürlich nicht.

Donnerstag, 13. Januar 2011

Statt Kaffee und Gipfeli

Kaffee und Gipfeli ist out - wie man unschwer erkennen kann. Als Blog eingeschlafen und als Frühstück offenbar langweilig und viel zu konventionell. Dieses Schild stellte ein Metzger im Zürcher Hauptbahnhof am Montagmorgen vor die Tür. "Prost, Edward", dachte ich sofort. Interessantes über Edward gibt's übrigens hier. Und ob Kaffee und Gipfeli vielleicht noch ein ewiges Leben als Untote beschieden ist, wird sich jetzt zeigen.

Sonntag, 11. Juli 2010

Jahrestag

Nun, da das Turnier für die deutsche Mannschaft definitiv vorüber ist, kann ich endlich wieder bloggen. Denn, wie wäre das vorher möglich gewesen, ohne farbenblinde Prognosen abzugeben (dafür gibt es ja schließlich Oktopoden) und ohne übers Fußballgucken im Ausland und den wenig patriotische Gefühle auslösenden Anblick schreiender deutscher Fans im Zürcher Hauptbahnhof (Olé – olé, olé, olé, Super-Deutschland, olé) zu philosophieren? Wie hätte ich vermeiden können, über Dinge zu fachsimpeln, von den ich keine Ahnung habe, wie Fouls, ungewolltes Handspiel und Abseitsfallen? (Hier übrigens nur auf Englisch: Hands, Offside, Out.) Antwort: Gar nicht. Also habe ich das Problem lieber ausgesessen. Früher oder später musste es sich ja von alleine lösen.

Unterdessen bin ich schon ein Jahr hier – und habe es gar nicht gemerkt! Eine Freundin musste mich darauf aufmerksam machen, ein Mitglied jener vermeintlichen Schauspieltruppe, die mich an meinem zweiten Abend in der Stadt überfallen und eingekesselt hatte. Sie war es auch, die berechtigterweise ein Bilanz-Posting einforderte.

Und nun? Was gibt es zu bilanzieren? Ich bin nicht mehr neu hier, die Routine macht sich breit. Ein Sonntag in der Badi wie heute ist einfach ein normaler Sonntag und kommt mir nicht mehr vor wie der beste Urlaub meines Lebens. Es erstaunt mich kaum noch, dass man im See baden und dabei in die Alpen gucken kann. Die Aussicht von der Rudolf-Brun-Brücke auf die Altstadt zu beiden Seiten raubt mir nicht mehr den Atem und im Niederdorf schlängele ich mich zielstrebig durch die Touristenströme ohne links und rechts zu gucken. Brauche ich vielleicht Urlaub von der schönsten Stadt der Welt? Oder muss man alle Jahre umziehen, um sich Entdeckerdrang und Euphorie zu bewahren? Und wie lange hält man das durch?

genau ein Jahr her: Touristenfoto von der Rudolf-Brun-Brücke

Vor wenigen Tagen habe ich meine zweite Schweizer Stelle angetreten. Auch diese befristet, damit wenigstens im Job keine Gewöhnung aufkommt. Und wie um mich zu erinnern, wie außergewöhnlich schön die schönen Seiten Zürichs sind, gibt mir die neue Stelle die Möglichkeit die hässlichere Seite kennenzulernen: die Peripherie. Zersiedelte Landschaften voller Industriegebiete und kernloser Ortschaften. Stickige S-Bahnen voller graugesichtiger, anzugtragender Pendler. Fast wehmütig und mit Peter Fox im Ohr gedenke ich der Berliner Partyleichen, die mich samstags um 9.30 auf dem Weg zur Frühschicht an der Haltestelle begrüßten. Wobei, solche hat Zürich eigentlich auch zu bieten. Die fahren halt nicht S-Bahn, sondern sitzen um kurz nach 8 vor der Gräbli-Bar und spucken aufs Trottoir.

Aber nach einem Jahr ist nicht nur die (blinde?) Ankunftseuphorie verflogen, sondern es ist auch etwas passiert, was die erste Stufe vom Heimischwerden ist: Ich habe Erinnerungen an diese Stadt, romantische und unromantische, schöne und unangenehme. Bestimmte Plätze verbinde ich mit Menschen, Wege erscheinen mir viel kürzer als vor einem Jahr, Gebäude kleiner, Straßenführungen weniger verwirrend. Nach einem Jahr bin ich also nicht mehr neu hier und ganz sicher nicht verloren, aber fremd bin ich noch immer oder vielleicht jetzt erst recht. In Berlin wird man als Zugezogener erst heimisch, weiß Lea Streisand (vgl. "Weihnachten in der Heimat"), wenn man sich dort reproduziert hat und an Weihnachten nicht mehr nach Hause fährt. In Zürich ist es die Sprache: Heimisch ist, wer nicht gleich am Grüezi als fremder Fötzel erkannt wird. Und wer dann noch ein Bier bestellen kann, ohne aufzufallen, der hat fast schon Wahlrecht.

Ich arbeite dran.

Samstag, 29. Mai 2010

Ehrenrettung eines Kantons

Der Aargau ist hässlich, langweilig, flach und von konservativen Landeiern bevölkert. Eigentlich ist er nur dazu da, dass man im Zug von Zürich nach Basel oder Bern in Ruhe frühstücken kann. Aussteigen? Im Aargau? Aber wozu denn? – Soweit die Meinung der Zürcher. Nun kann ich stolz sagen: Ich habe es gewagt. Fast zwei Tage habe ich in dem verrufenen Kanton verbracht, unterwegs zu Fuß und mit dem Fahrrad. Und ich kann nur sagen: Der Aargau wird seinem Ruf nicht gerecht. Es gibt Hügel, Flüsse, sehr hübsche Barockklösterchen und schnuckelige Altstädte.

Panoramablick auf Baden AG

Ich vermute, der Schweizer an sich ist so verwöhnt von den pompösen Berglandschaften, dass ihn eine Hügel- und Flussregion einfach nicht mehr vom Hocker reißt. Dass der Aargau als hässlich gilt, liegt natürlich nicht nur am Mangel an nennenswerten Erhöhungen, sondern vor allem an der Industrie. Das Panorama des Limmattals ist tatsächlich recht verschandelt durch die ganzen Fabriken. Und es gibt zugegebenermaßen auch merkwürdige Dinge im Aargau, viele Hundesalons zum Beispiel. Es gibt Taubenzüchter, die ihr weißes Prachtstück „Princess“ rufen. Und dass jeder Ort eine eigene Aktiengesellschaft ist, kann man natürlich kapitalistisch finden.

Aber es gibt im Aargau auch lässige Leute. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen! An einem Kiosk an der Limmat, der so was wie der obere Letten von Baden ist. Und es gibt zwar Atomkraftwerke im Aargau, aber dafür gibt es auch Atomkraftgegner. Mit ein paar Tausend davon habe ich am Pfingstmontag demonstriert. Natürlich kamen die nicht alle aus der Gegend. Einige waren wohl aus Zürich. Und einige waren aus Deutschland angereist. (Woran ich erkenne, dass sie angereiste Deutsche waren und keine Immigranten? Niemand, der hier lebt, würde so Dinge sagen wie: „Ich hab Dir doch gesagt, in der Schweiz geht alles langsamer, auch die Demonstrationen.“) Aber unter den 5000 müssen doch auch ein paar aufrechte Aargauer gewesen sein. Und dann gab es noch die Anwohner am Wegesrand, die uns mit Transparenten begrüßt und bei sengender Hitze mit Trinkwasser versorgt haben.

Wenn man alles in Betracht zieht und Altstädte gegen AKWs, Hundesalons gegen Hügel und Fabriken gegen Flüsse abwägt, muss man wohl mit Pater Brown Bilanz ziehen: hübsch-hässlich habt Ihr’s hier! Mich jedenfalls, die die Winter in Ostberlin kennt und die Fabriklandschaften Baden-Württembergs, kann das nicht abschrecken. Ich werde wieder mal im Aargau aussteigen. Auch wenn’s keiner meiner Zürcher Freunde versteht.


hübsch-hässlicher Radweg an der Autobahn

Mittwoch, 26. Mai 2010

Neulich im Ausgang

Keine Angst, liebe Deutsche, Ihr gewöhnt Euch noch an das Wort. Ihr müsst es nur noch ein paar Mal lesen oder hören und schon klingt es ganz normal und nicht mehr nach Gefängnishof oder grünen Exit-Schildern. Eigentlich heißt es ja auch Uusgang und nicht Ausgang, aber das kann man irgendwie nicht schreiben und schon gar nicht in einem ansonsten hochdeutschen Text. (Ich nehme mir an dieser Stelle fest vor, eines Tages einen Blogeintrag komplett und ernsthaft in Schweizerdeutsch zu verfassen. Vielleicht poste ich sogar eine unkorrigierte und eine professionell korrigierte Version - das wäre sicher lehrreich.) Es nimmt mich noch Wunder, ob mit der Deutschenschwemme nicht eh ein neues Pidgin entsteht, in dem Ausgang ganz normal tönt und man sich höflich für das Telefon bedankt, wenn man angeläutet wird.

Was ich aber eigentlich erzählen wollte, Achtung, ist dieses: Ich habe das Kaffee Burger von Zürich entdeckt. Der Spunten heißt Meyer's und befindet sich am Lochergut. Und wie alles in Zürich, ist es natürlich noch viel besser und viel originaler als die Berliner Inkarnation. Im Meyer's kann man schon abends um 10 Koordinationsschwierigkeiten und Kommunikationsbedürfnisse (verbaler und physischer Natur) beobachten wie im Kaffee Burger morgens um halb fünf. Noch während meine Mitbewohnerin und ich an einem Freitagabend unsere Fahrräder an der Ecke abstellen, kommt ein Mann mit Hund auf uns zugeschossen und fragt, ob wir ins Meyer's wollen. Denn in dem Fall müssten wir nach der ersten Stange gleich wieder rauskommen und einen mit ihm kiffen. Unbedingt.

Innen haben wir noch nicht einmal richtig an der Bar Platz genommen, schon sind wir mit unseren Nachbarn in eine Diskussion über das angemessene Getränk und die universelle Unaufrichtigkeit verwickelt. (Trinken: Was schon? Natürlich geht nur Bier in irgendeiner Form. In schummrigen Laden mit dunkel gebeizter Holzbar und bunten Lampen trinkt man doch keinen Sekt-Aperol! Unaufrichtigkeit: Führen wir nicht alle ein Doppelleben?) Einer von beiden trinkt jedenfalls den ganzen Abend Cola, die er mit einem bunten Cocktail-Stäbchen umrührt, vielleicht damit die Kohlensäure rausgeht. Vermutlich versucht er, wieder nüchterner zu werden - der Abend ist ja schließlich noch jung. Er hängt fast auf dem Tresen, richtet sich immer mühsam auf, um das Glas zum Mund zu führen und stößt sich dabei jedesmal das giftgrüne Stäbchen neben dem rechten Auge tief in die Wange. Er fragt uns aus und hat zu allem einen Kommentar in petto. Buchbranche? Jaja, John Irving hat ein neues Buch geschrieben, das ist wohl genau der gleiche Scheiß wie die anderen von ihm, und auch genauso lang, hab ich gehört, das muss ich doch nicht lesen. Was liest du denn gerne? Martin Suter? (Nein.) Thomas Hürlimann? (Ja. Und dann auch noch ein paar nichtschweizerische Autoren, aber lassen wir das...) Und wenn ich jetzt ein Buch schreiben würde, müsstest du dann entscheiden, ob man das druckt oder nicht? (Bitte, bitte schreib kein Buch!) Aber kannst du das überhaupt, woher willst Du denn wissen, ob das gut ist oder nicht? Wenn Du jetzt mein Buch ablehnst, und dabei ist das der Hammer und wird ein Bestseller, dann ärgerst du dich doch. Fliegst du dann raus?...

Sein Kumpel ist wesentlich nüchterner, wesentlich wortkarger und wesentlich sympathischer, aber viel weniger unterhaltsam. Der Mann mit Hund gesellt sich schließlich auch noch zu uns. Er ist ein Engelmedium, findet die Schweizer Flüchtlingspolitik faschistisch und hat eine deutsche Fast-Ex-Freundin. Du bist übrigens auch ein Engel, sagt er. Ich sage, ja schon, aber nur als Metapher. Er sagt, jaja, genau, eine Metapher. Ich wüsste furchtbar gerne, was die Engel so erzählen (vor allem, wenn sie eigentlich Metaphern sind - endlich Einblick in das geheime Innenleben der Metaphern!), aber er will keine konkreten Informationen herausrücken.

Nach einigem Hinundher und sehr merkwürdigen Diskussionen endet der Abend so: Der Colatrinker kommt nach dem Rauchen mit dem Engelmedium einfach nicht zurück, seine Jacke ist noch da. Der ruhige Kumpel versucht es erfolglos auf seinem Handy. Das Engelmedium selbst wird von seiner deutschen Fast-Ex-Freundin angerufen und versinkt in einem wirren Krisengespräch. Wir nutzen die Gelegenheit zum Aufbruch.

Wie gut, dass ich jetzt weiß, wo man hier so hingeht, wenn man mal dringend auf der Suche nach (absurden) Gesprächspartnern ist, und wie gut, dass man gar nicht bis halb fünf wach bleiben muss.

Mittwoch, 5. Mai 2010

Nostalgie und Tränengas



Am 1. Mai war ich demonstrieren. Es ging gegen die Banken, also gegen Boni, gegen Schwarzgeld und gegen Staatshilfen zur Rettung von Geldinstituten. Als ich mich auf den Weg machte, wusste ich das allerdings noch gar nicht so genau. Ich ging hin, weil 1. Mai war, und am 1. Mai geht man nunmal raus (wenigstens 1 Mal im Jahr) und zeigt, dass man noch da ist, dass man noch links ist und sich immer noch mehr soziale Gerechtigkeit wünscht. Das Linkssein wurde mir dann aber doch zum Problem, als ich, in einem Meer von roten Fahnen stehend, von der venezolanischen Frauenministerin mit donnernder Stimme darauf hingewiesen wurde, dass in Venezuela des Sozialismus des 21. Jahrhunderts entstünde. Vier Frauen seien dort an der Macht – neben dem Commandante Hugo Chavez. Ohne viel über Venezuela zu wissen, machten mich allein ihre Emphase und ihre faktenarme Rede misstrauisch, ganz zu schweigen von dem Personenkult um Chavez. Später sangen um mich herum mit gereckten Fäusten Kleinunternehmer, Selbstständige und Wissenschaftler die Internationale. Naja, ok, 2 VBZler (öffentlicher Nahverkehr) waren auch in Sicht. Ich, Gewerkschaftsmitglied, schwieg.



Auch wenn ich inhaltlich mit den Forderungen der anderen Rednerinnen (die grüne Nationalrätin Katharina Prelicz-Huber und die Gewerkschaftsfunktionärin Vania Alleva) hundertprozentig übereinstimme, störte mich doch der anachronistische Schleier, der unverkennbar über der ganzen Veranstaltung lag. Pathos und Ästhetik stammten direkt aus Blockzeiten. Im Tagesgeschäft herrscht bei Gewerkschaften und Parteien Pragmatismus; einmal im Jahr braucht man offenbar ein wenig Nostalgie. Solange die bürgerlichen Parteien die 'gute alte Zeit' und ihre Werte gepachtet haben und die religiösen die Transzendenz, kommt die Linke offenbar vom Klassenkampf nicht los.

Ebenfalls anachronistisch und wirklichkeitsfern erschienen mir die Straßenschlachten, die sich am späteren Nachmittag im Langstrassenquartier entzündeten. Als kreuzberggestählte Zuzüglerin war ich mir sicher, dass mich nichts überraschen kann. Ja, eigentlich hatte ich all die Befürchtungen und Warnungen im Vorfeld, all die noch immer entgeisterten Erzählungen von den Ausschreitungen der Vorjahre für maßlos übertrieben gehalten, für einen Reflex gegen alles, was die schweizerische Ordnung und Gemütlichkeit stört. (Und im Zweifelsfall ein willkommener Anlass für gewisse Leute, nach mehr Polizeipräsenz zu rufen.)Doch wie schon im Hinblick auf das Fahrradfahren im Autoverkehr musste ich einsehen, dass Zürich doch das härtere Pflaster ist. Wirklich wahr. Die Polizei sah genauso vermummt aus wie gewohnt, nur in blau. Und sie ging härter vor als die Berliner Cops (zumindest in den letzten Jahren): Wasserwerfer wurden sowieso eingesetzt, aber auch Tränengas und Gummigeschosse. Kreuzungen wurden innerhalb von Sekunden abgeriegelt, Menschen eingekesselt. Ausscherer und Provokateure lagen in Nullkommanichts unter einem Menschenhaufen aus wütenden Zivilbeamten. Es war so ungemütlich, dass ich nicht einmal lange zusehen wollte (und das lag nicht am Regen).

Das eindrücklichste Erlebnis an diesem Tag waren aber nicht die roten Fahnen oder die schwarzen Gesichtsmasken, sondern das unwahrscheinlich und fast erschreckend leuchtende Grün der nassen Blätter und Wiesen, das mich auf dem Nachhauseweg am Sihlufer umgab. Man sollte viel öfter im Regen spazieren gehen; Nostalgie und Tränengas reichen dann doch einmal im Jahr.

Mittwoch, 21. April 2010

Sechseläuten - Schweizer Brauchtum III


Die Schweizer verkleiden sich gerne. Ob das wohl mit einer umfassenden und uralten Schweizer Identitätskrise zu tun hat? Bestimmt. Aber das ist ein anderes Thema und dazu ein andermal. Vergangenen Montag jedenfalls marschierte ein Haufen Männer in historischen Kostümen zu Blasmusik durch die Zürcher Innenstadt. Manche waren auch hoch zu Ross unterwegs. Sie trugen Lockenperücke und Gehröcke, große Hüte, Hellebarden und, äh, Palästinensertücher. Ja, einige waren als Araber verkleidet, aber ungefähr so liebevoll, wie ich und mein Bruder in jenem Jahr, als der Kinderfasching so plötzlich und unerwartet kam. Ein Nachthemd, ein Pali-Tuch, eine schwarze Kordel mussten als Notlösung herhalten. Ich habe dann altklug verkündet ich sei ein Scheich aus der Wüste, während mein vier Jahre älterer Bruder vermutlich würdevoll den vollständigen Namen von Hadschi Halef Omar rezitierte.

(Natürlich wäre ich viel lieber als Prinzessin gegangen, aber vermutlich fand meine Mutter das irgendwie unemanzipiert und süßlich. Nur einmal durfte ich tatsächlich ein rosa Rüschenkostüm tragen, musste aber wegen der Kälte eine braune Mütze dazu aufsetzen, die natürlich das gesamte Outfit zerstörte. Vermutlich fühlte meine Mama so ähnlich wie dieser geplagte Vater und dabei gab es doch damals noch gar keine Prinzessin Lillifee. Naja, zurück zu Hadschi Halef Omar.)

Von Karl May schien irgendwie auch das Orientbild dieser Zürcher Reiter zu stammen. Sie gehörten der Zunft zum Kämbel an, die ein Kamel im Wappen trägt. Es handelt sich um eine Händler- und Fuhrleutezunft und so scheint es zunächst halbwegs logisch zu sein, dass sie sich das Kamel als Wappentier gewählt haben… Lastentiere, Karawanen usw. Doch ursprünglich bedeutete Kämbel gar nicht Kamel, sondern Angoraziege, weiß Wikipedia. Warum eine Angoraziege allerdings ein sinniges Wappen für eine Händlerzunft sein soll, lässt die Netzenzyklopädie offen. Jedenfalls gab es vermutlich keine frühzeitigen Nahostkontakte der Zunft zum Kämbel und somit ist die Karl-May-Assoziation ja recht angebracht...


Das Sechseläuten ist der Tag der Zünfte. Von denen gehen einige tatsächlich auf Handwerkervereinigungen zurück, wie man als Laie erwarten würde. Aber daneben gibt es auch eine Gesellschaft der Edelleute und Ritter, die Gesellschaft zur Constaffel (das sind die Jungs mit den Hellebarden und den Kettenhemden aus graubesprühtem Grobstrick), und Quartierszünfte, die sich nicht auf ein Handwerk, sondern auf ein Stadtviertel berufen. Heutzutage wird die Mitgliedschaft in der Zunft in den Stadtzürcher Familien vererbt und hat gar nichts mehr zu tun mit einem erlernten Handwerk. Von daher wird auch verständlich, warum vielen die Zünfte und das Sechseläuten als rückständig und elitär gelten.

Und, nicht zu vergessen, frauenfeindlich. Denn im Umzug dürfen keine Frauen mitgehen. Jedenfalls eigentlich keine über 12 oder so, denn kleine Mädchen mit Perücken sieht man zuhauf, eines wird sogar in einer Sänfte durch die Gegend geschleppt. Aber offenbar wird die Altersgrenze nicht so streng gehandhabt: Kindergärtnerinnen für die Kleinen dürfen mitgehen, Blumenträgerinnen und (unkostümiert) auch Politikerinnen (vgl. Video). Doch die Ende der 80er Jahre gegründete Frauenzunft durfte bislang nie am Zug der Zünfte teilnehmen, sondern musste ihren eigenen Umzug eine halbe Stunde vor dem offiziellen Beginn durchführen. Für 2011 sind sie nun zum ersten Mal (und zunächst nur für ein Jahr auf Probe) zum Hauptzug geladen worden. Ansonsten sind Frauen beim Sechseläuten vor allem dazu vorgesehen, den Marschierenden Blumen zu bringen.


Ich persönlich verkleide mich ja auch gerne und habe den Prinzessinnen-Tick vor kurzem abgelegt. Insofern wäre ich sofort zu haben für eine Ausländerzunft oder eine Praktikantenzunft. Naja, da das Zürcher Prekariat ja inklusive mir aus ca. 3 Leuten besteht, vielleicht lieber eine Ausländerzunft. Wir könnten uns ja alle wie Karl-May-Charaktere verkleiden und würden dann kaum auffallen.

Das Sechseläuten endet auf dem Sechseläutenplatz, wo auf einem riesigen Scheiterhaufen ein künstlicher, mit Knallkörpern gefüllter Schneemann, der Böög, verbrannt wird. Die Zeit vom Anzünden des Holzes um 18 Uhr bis zur Explosion des Kopfes wird als Omen für den kommenden Sommer gewertet, je länger es dauert, desto verregneter der Sommer. Während des Feuers galoppieren die falschen Araber und andere Zünftler um das Feuer herum. Es ist eine ziemlich laute und ziemlich heidnische Angelegenheit. Wenn das Feuer später heruntergebrannt ist, findet noch ein wildes Würstchengrillen am Scheiterhaufen statt. Währenddessen besuchen sich die Zünftler noch die halbe Nacht gegenseitig in ihren Zunfthäusern in der Altstadt, immer mit Blechbläsern im Schlepptau. Solch merkwürdige Bräuche gibt es in der Schweiz. Aber dieser hier fand wenigstens mal zu einer akzeptablen Tageszeit und bei Sonnenschein statt.

hier den Böög explodieren sehen