Sonntag, 24. Januar 2010

Schöne Dinge

Drei schöne Dinge habe ich letzte Woche gesehen. Das erste war ein alternder Postmann, der in einer gelben Windjacke auf einem kleinen Moped neben meinem Tram herbrauste. (Ja, man sagt hier: das Tram.) Er hatte ein zerfurchtes, sympathisches Gesicht mit grauem Dreitagebart. Beim Beschleunigen sang er fröhlich das Motorengeräusch mit, wie ich an seinen gespitzten Lippen erkennen konnte.

Das zweite war eine sehr ordentlich gekleidete Schuhverkäuferin mit schwarzem Rock, grauem Twinset und Perlenkette, die mit einer langen Stange sorgfältig und voller Ruhe (fast möchte ich sagen: mit Eleganz und Disziplin) die Schuhpaare in der vordersten Schaufensterreihe zurechtschob. Es schien mir ein Fenster in die Sechziger Jahre zu sein.

Und das dritte war eine Frau in meinem Alter, die mir an einem kalten Tag auf meinem Heimweg von der Schmiede Wiedikon entgegenkam. Sie hatte wie ich die Hände in den Taschen vergraben. Ihr Mobiltelefon hatte sie zum Telefonieren einfach unter den elastischen Rand ihrer rosafarbenen Zopfmuster-Wollstrickmütze geklemmt. Der untere Teil des Klapphandys wippte im Takt ihrer Schritte.

Dann habe ich noch etwas weniger schönes gesehen. Vorgestern im vollbesetzten Tram saßen auf drei Plätzen hintereinander Leute, die telefonierten. Zuhinterst ein junger Karrieredeutscher mit millimeterkurzen Haaren und modischem Dreitagebart, an die Person in der Mitte erinnere ich mich nicht, und zuvorderst saß eine elegante mittelalte Schweizerin mit langen dunklen Haaren, Nana-Mouskouri-Brille und Lippenstift. Alle anderen Fahrgäste starrten wie üblich unbeteiligt vor sich hin und im ganzen Wagen war nur das Raunen dieser drei zu hören. Auf dem Einzelplatz den Telefonierern gegenüber saß ein wunderschöner, sehr trauriger Mann mit tiefroten Augen, der sich das linke, den Raunern zugewandte Ohr zuhielt.


(bunte Limmatkiesel)

Sonntag, 17. Januar 2010

Schweizer Brauchtum

Ich bin die Königin! Ok, ich persönlich wusste das ja schon lange (spätestens seit ich 4 bin), aber seit ich letzte Woche auf ein weißes Plastikteil gebissen habe, ist es offiziell. Und das kam so: Am Dreikönigstag wurde ich genötigt, ein Stück Hefekuchen zu wählen und zu essen (mit Rosinen, was schon ein recht hoher Preis ist für die zehnprozentige Chance, Königin zu werden) und darin befand sich eben ein kleiner weißer Plastikkönig, wobei es vielleicht sogar eine Königin ist, so genau kann man das unter den königlichen Gewändern nicht erkennen. Mir wurde jedenfalls versichert, dass sich im Zuge der zumindest in den städtischen Gebieten bereits sehr verbreiteten Gleichstellungsbewegung vereinzelt bereits Königinnen in den Kuchen befänden. Jedenfalls waren es die Rosinen am Ende doch wert, denn ich bekam eine glänzende Pappkrone und mein Chef redete mich allen ernstes mit „Eure Majestät“ an. Naja, um ganz ehrlich zu sein, klang es mehr wie „Eure Majestät, im Fall“.

(„Im Fall“ ist schweizerdeutsch für „eigentlich“, „genau genommen“ oder „in diesem Fall“ und kommt in jedem ordentlichen schweizerdeutschen Satz mehrfach vor. In einem hochdeutschen Satz mehrfach „eigentlich“ unterzubringen schaffte eigentlich nur mein Schulkamerad Jan mit dieser unvergessenen Glanzleistung: „Eigentlich hat die eigentlich christliche CDU das doch eigentlich immer schon so gemacht – eigentlich.“ Aber an dieser Stelle kommt natürlich die Definition von Hochdeutsch ins Wanken.)

Ich bin übrigens auch die Eiskönigin. Denn ich kann jetzt rückwärts fahren, in beide Richtungen, äh, also ich meine natürlich in Links- und Rechtskurven. Natürlich lässt sich das noch optimieren, aber ich bin seit einem Durchbruch vor wenigen Wochen auf dem richtigen Weg. Ganz ohne Stürze geht das nicht ab, aber zum Glück bin ich gut gepolstert. Wenn ich die Kinder sehe, die sich lustvoll jauchzend und mit Anlauf aufs Eis werfen, dann wünsche ich mir von Herzen, ich könnte diese Erwachsenenangst vor dem Fallen wieder loswerden. Doch Unbekümmertheit und Unschuld bekommt man nicht zurück.

Aber zurück zum Schweizer Brauchtum: An diesem Mittwoch hat das neue Jahr auch in der Schweizer Region angefangen, wo eigentlich nichts vorangehen dürfte – schließlich sind sich alle einig, dass hier die Zeit stehen geblieben ist, im Appenzell. Hier begrüßt man zwar das neue Jahr, doch man tut dies nach einem Kalender, der überall sonst schon seit Jahrhunderten überholt ist und zwar aus Protest, denn die Ausserrhodener lassen sich von niemand sagen, wann sie ihre Feste zu feiern haben.

Das Neujahrsfest selbst beginnt in der Morgendämmerung, weshalb wir aus Zürich angereisten Schaulustigen auch angemessen unausgeschlafen sind. Vermutlich ist das auch Teil der Magie. Schweigend stapfen wir im noch dunklen und verschneiten Hügelland herum, über dem man gerade erst die Umrisse des Säntis erkennt. Und dann hören wir von Ferne Geläut und sehen die ersten Silvesterkläuse vor einem Bauernhof im Kreis stehen. Es sind Wüste, das heißt sie sind von Kopf bis Fuß in Tannenzweige gehüllt, tragen Masken aus Holz und Tannenzapfen und Hüte aus Reisig. Zwei tragen Schellen auf dem Rücken, sie hüpfen umher und drehen sich. Die anderen haben vor Brust und Rücken je eine riesige Kuhglocke, die sie läuten, indem sie träge ihre Oberkörper drehen. Dann bekommen sie von der Bäuerin Schnaps, reihum gibt sie den Kläusen aus einem Krug zu trinken. Durch die Mundlöcher in den Masken geht das nur mit einem Strohhalm.

Dann beginnen sie zu singen, zu zäuerlen. Einer beginnt und die anderen steigen nacheinander in sphärischen Naturharmonien ein. Das Zäuerli wird auch Naturjodel genannt, hat aber mit dem schnellen Gesang mit der überschnappenden Stimme, den ich unter Jodeln verstehe, nichts zu tun. (Hier mal reinhören!) Es sind stattdessen ganz langsame, schwebende Lieder, die perfekt in diese Landschaft passen; vor allem wenn wie in diesem Moment die Dämmerung voranschreitet und das Licht langsam auf die Schneedecken zu rieseln beginnt.



Danach witzeln die Kläuse ein wenig herum (auf Appenzellerisch, ich habe also kein Wort verstanden) und geben der Bäuerin und ihrem Sohn zum Abschied die Hand. Dann hüpfen sie klingelnd die verschneite Auffahrt hinunter zum nächsten Haus. Dass die Kläuse reden dürfen, dass sie scherzen und den Bauern die Hand geben, erscheint mir seltsam. Denn als Afrikareisende war ich fast automatisch davon ausgegangen, dass die Menschen unter der Maske nicht als Mensch erkannt werden dürfen, weil sie doch in diesem Moment die Inkorporierung eines Geistes sind und nicht ihr menschliches Selbst und weil es die Heiligkeit des Anlasses schmälern würde.


(schön-wüste Kläuse)

Später sehen wir noch viele andere Kläuse, viele Wüste und auch einige Schön-Wüste mit großen Hüten mit kleinen Menschen und Kühen und Scheunen drauf. Schöne Kläuse, die mit den wirklich aufwendigen Hüten und den Frauenkleidern, sehen wir an diesem Tag nicht. Aber das frühe Aufstehen hat sich trotzdem gelohnt, noch dazu war ich so stolz auf mich, tatsächlich um 5 aufgestanden zu sein, dass ich mich dann auch noch wie die Königin des anbrechenden Morgens gefühlt habe.


(rieselnde Dämmerung im Appenzell)