Samstag, 27. Februar 2010

Schweizer Brauchtum II - Morgestreich

Anscheinend finden alle spannenden Traditionen hier in der Schweiz in den frühen Morgenstunden statt. Diesmal erspare ich mir aber das Aufstehen mitten in der Nacht, indem ich einfach nicht ins Bett gehe. Ich verbringe ein paar nette Stunden bei der WG-Party im Dachstock eines wunderschönen uralten Hauses in Kleinbasel mit Blick auf den Rhein und das Trois Rois – das teuerste Hotel der Stadt. Danach ein Abstecher in die Satisfactory, ein neuer Club, der mich mit seinem Werkstatt-Garagen-Innenhof sehr an das gute alte Lovelite erinnert. Zum Glück ist auch der Eintrittspreis mit 5 Franken eher berlinerisch. Hinter dem DJ-Pult erkenne ich eine Bekannte (Danielle Bürgin, Veranstalterin von Bon Voyage), bin begeistert von ihrer Musik und freue mich, dass ich noch anderthalb Stunden Zeit habe zu tanzen.

Denn um halb vier müssen wir den Club verlassen und uns der Völkerwanderung in die Altstadt auf der anderen Rheinseite anschließen. Eine Viertelstunde später stehe ich voller Erwartungen im Gedrängel am Rümelinsplatz. Um Punkt vier passiert es: alle Lichter gehen aus (N. erzählt uns später, dass es sich sogar um ein Gesetz handelt: ein Restaurant etwa, das nicht ordnungsgemäß abgedunkelt ist, kann verklagt werden).

Wir stehen also zu Hunderten in der Dunkelheit und eine seltsame Musik hebt an – Marschmusik, die seltsam trocken ist, da sie nur von Piccolo-Flöten und Blechtrommeln gespielt wird. Verkleidete Menschen mit bunten viereckigen Lampen auf dem Kopf beginnen, in militärischen Viererreihen an uns vorüberzuziehen. Jede Fasnachts-Clique hat außerdem ihre eigene große Laterne, die das diesjährige Sujet der Clique vorstellt, meist ein aktuelles Thema aus Politik und Gesellschaft (Schweinegrippe, Bundespräsident Merz und Gaddafi, Gaddafi, Gaddafi und Gaddafi).



Zuerst spielen alle gemeinsam den „Morgestreich“, einen Marsch, der so heißt wie das Ereignis (oder ist es andersherum?), dann gehen die verschiedenen Cliquen ihre eigenen Wege und spielen ihr eigenes Programm. Einerseits sind viele der Zuschauer (wie wir) angetrunken und fröhlich, andererseits ist es eine recht feierliche und ernsthafte Angelegenheit. A. betont immer wieder, dass es sich um ein ganz anderes Erlebnis handelt, wenn man gerade erst aufgestanden ist. (Ich frage mich nur, wie man dann so unausgeschlafen und nüchtern die ganzen Besoffenen ertragen soll.)



Nachdem wir uns das Spektakel eine Weile angesehen haben, zupft mich A. am Ärmel und will los. N. legt mir galant die Hand auf den Rücken, damit ich nicht verloren gehe. Ich fühle mich beschützt. A. biegt in eine Gasse und verschwindet plötzlich rechter Hand hinter einer dunklen Glastür. Ich frage mich, ob es sich vielleicht um einen Geheimtipp zum Aufsklogehen handelt. Aber nein, hinter der Tür befindet sich ein großes Gewölbe voller Menschen, die Tee mit Rum oder Weißwein trinken, und Mehlsuppe oder Käsewähen essen.

Kleiner Exkurs: Eine Wähe ist ein Mürbeteigkuchen mit Eierguss; es gibt sie mit süßem (Obst oder Sahne) und mit salzigem Belag (Gemüse, Zwiebeln, Käse). Besonders die salzigen Sorten habe ich bereits sehr ins Herz geschlossen. Aber Achtung: die Käsewähe wird auch Käsekuchen genannt, also niemals bei Süßhunger Käsekuchen bestellen und auf etwas hoffen, das wie Omis Käsekuchen aussieht. Diese Art Gebäck wird hier Quarktorte genannt – das habe ich zumindest gelesen, angeboten wurde mir das noch nie. Aber als Alternative kann ich eine Nidelwähe empfehlen (Sahne-Füllung).

Ich genieße in dem gespenstischen Gewölbe eine Käsewähe. Bei Tag soll es sich um ein normales Studentencafé mit Gratis-WLAN handeln. Ich überlege, welche Orte auf welche Art und Weise seltsam wirken würden, wenn die Beleuchtung einfach mal ausgeschaltet bliebe. Bahnhöfe, Zahnarztpraxen, Aufzüge...
Wir ziehen dann noch durch ein paar Fasnachtskeller, die nur an den drei ‚schönsten Tagen’ im Jahr geöffnet haben. Zum Teil sind sie wunderschön dekoriert. In einem bestehen alle Wände aus buntbemalten, von hinten beleuchteten Leinwänden, wie sie auch für die großen Laternen verwendet werden. Hundemüde falle ich gegen 6 unangemeldet ins Gästebett. Aber das war erst der Anfang der Fasnacht...


Nicht ganz jugendfreie Laterne: Bundespräsident Merz guckt aus dem Hosenstall.