Freitag, 1. Juli 2011

Wundertag

Auf dem Nachhauseweg sind mir heute einige merkwürdige Dinge begegnet. Wenn das ein Film wäre, würden sie mir sagen, dass der Mann, den ich gestern verlassen habe, doch der Richtige für mich ist. Wenn das ein Kinderbuch wäre, würden sie mir sagen, dass ich heute Abend oder spätestens morgen früh Besuch von einem bizarren Wesen bekomme und ich mir schon einmal überlegen sollte, was ich mir wünschen werde.

Ich muss mir allerdings gar nichts überlegen. Ich weiß zu jedem Zeitpunkt meines Lebens, was ich mir wünschen würde. Ich finde Menschen seltsam, die das nicht wissen – so als wäre es nicht das Allerwichtigste, sofort einen Wunsch parat zu haben, wenn es eine Gelegenheit gibt. Rosa Autos sollen gute Glücksbringer sein, besonders alte. Und natürlich auch Sterne: der Abendstern und Sternschnuppen. Flugzeuge tun’s auch, wenn sie als erstes Licht am Himmel auftauchen und wie Sterne aussehen. Man kann sich auch in Tunnels etwas wünschen, wenn man die Füße hochhebt und dabei den Atem anhält, habe ich mal gehört. Natürlich, wenn man Geburtstagskerzen ausbläst und einen Milchzahn verliert. Oder vielleicht wird man einfach nur von einem geliebten Menschen gefragt, was man sich wünschen würde, wenn eine gute Fee vorbeikäme. Dann muss man doch etwas antworten können! Wie öde wäre es denn, zu sagen: Möh, keine Ahnung... Und was würde das über einen aussagen? Wünschen ist Ausdruck von Hoffnung, Wünschen ist immer ein Blick in die Zukunft, wie irreal er auch sein mag. Nur innerlich tote Menschen wissen nicht, was sie sich wünschen würden.

Auf dem Nachhauseweg heute begegnete mir ein Bauarbeiter oder ein Verkehrstechniker in einer kurzen Hose, aus orangefarbenem, reflektorbewehrtem Schutzjackenstoff – so wie diese Jacke hier. Und ich habe mich gefragt, ob die Schweizer Bahn oder die Zürcher Verkehrsbetriebe eine extra Schutzkollektion für den Sommer herstellen lassen oder ob die Bauarbeiter- oder Verkehrstechnikergattin auf diese gewitzte Variante für die heißen Tage gekommen war und diese auf ihrer Bauarbeiter- oder Verkehrstechnikergattinnennähmaschine selbst hergestellt hatte. Und wie sieht es eigentlich mit der starkstromableitenden Schutzwirkung aus, wenn nur noch das halbe Bein bedeckt ist? Und was wusste die Bauerbeiter- oder Verkehrstechnikergattin darüber? Ist die Hose ein Liebesbeweis oder ein ausgeklügelter Mordversuch?

Auf dem Nachhauseweg heute begegneten mir des Weiteren zwei Tauben, die obwohl gesund aussehend, mitten auf der Straße beieinanderstanden und dort einfach stehenblieben und mich aus schwarzen Perlenaugen fragend anguckten, als ich sie mit dem Boden meiner vom Fahrradlenker baumelnden und mit Salat und Milch und Bier prall gefüllt Coop-Papiertüte streifte. Diese Papiertüten heißen hier Sack und im Gegensatz zur kleinen Plastiktüte (Säckli) bekommt man sie nicht umsonst angeboten. »Säckli welle?«, lautet die notorische Supermarktfrage, über die die meisten (nur) des Hochdeutschen mächtigen Touristen hier immer stolpern. (Es gibt noch eine zweite, die ich allen potenziellen Besuchern schon einmal erklären möchte: »Subbrkahd?« oder wahlweise »Kchummulus?« - Das sind Schweizer Payback-Systeme, die man als Besucher nicht verstehen muss. Einfach mit »Nä-ä« antworten, dann sind Sie auf der sicheren Seite.)

»Säckli welle?«, heißt auf Hochdeutsch »(Haben Sie) eine kleine Tüte gewollt?«. Ich befürchte immer, dass, wenn ich Ja sage, mir geantwortet wird: »Tja, nun ist es zu spät. Pech gehabt.« Im Märchengarten des blühenden Barock in Ludwigsburg – einem von zwei beliebten Grundschulausflugszielen (CH: Primarschulausflugszielen) in der Umgebung von Stuttgart - gab es früher einen Turm mit der Station »Rübezahl« darin: Man stand dort vor einem Gitter, hinter dem die (Pappmaché-)Felswand verführerisch glitzerte. Eine donnernde Stimme fragte aus dem Off: »Willst du Gold und Edelsteine?« Wenn man dann Ja sagte (oder auch irgendetwas anderes oder auch gar nichts), kam sogleich die fiese Antwort: »Aber du bekommst Sie nicht. Huahuahuahua....« Es würde mich interessieren, ob Kinder heute noch immer diese hochinteressante Lektion lernen – und mit Lektion meine ich jetzt nicht: Man kann nicht alles haben. Sondern die überraschende Feststellung, dass im allgemeinen Sprachgebrauch die Frage impliziert, dass man Gold und Edelsteine oder eben Säckli zu vergeben hat, dass also wörtliche Bedeutung und pragmatische Bedeutung sich unterscheiden können.

Liebe und Tod liegen nahe beieinander, in der Literatur und auf der Straße, wo eine vielleicht gutgemeinte kurze Schuzhose vielleicht eines Tages einen Bauarbeiter oder Verkehrstechniker töten wird und wo verliebte Tauben mit fragendem Blick das Auto anglotzen, das sie gleich überrollen wird. Im Kinderbuch wird nicht so viel gestorben, dafür darf man sich etwas wünschen, wenn man merkwürdige Dinge sieht. Ich wünsche mir etwas, ich weiß auch schon was, aber verraten darf ich es natürlich nicht.