Sonntag, 11. Juli 2010

Jahrestag

Nun, da das Turnier für die deutsche Mannschaft definitiv vorüber ist, kann ich endlich wieder bloggen. Denn, wie wäre das vorher möglich gewesen, ohne farbenblinde Prognosen abzugeben (dafür gibt es ja schließlich Oktopoden) und ohne übers Fußballgucken im Ausland und den wenig patriotische Gefühle auslösenden Anblick schreiender deutscher Fans im Zürcher Hauptbahnhof (Olé – olé, olé, olé, Super-Deutschland, olé) zu philosophieren? Wie hätte ich vermeiden können, über Dinge zu fachsimpeln, von den ich keine Ahnung habe, wie Fouls, ungewolltes Handspiel und Abseitsfallen? (Hier übrigens nur auf Englisch: Hands, Offside, Out.) Antwort: Gar nicht. Also habe ich das Problem lieber ausgesessen. Früher oder später musste es sich ja von alleine lösen.

Unterdessen bin ich schon ein Jahr hier – und habe es gar nicht gemerkt! Eine Freundin musste mich darauf aufmerksam machen, ein Mitglied jener vermeintlichen Schauspieltruppe, die mich an meinem zweiten Abend in der Stadt überfallen und eingekesselt hatte. Sie war es auch, die berechtigterweise ein Bilanz-Posting einforderte.

Und nun? Was gibt es zu bilanzieren? Ich bin nicht mehr neu hier, die Routine macht sich breit. Ein Sonntag in der Badi wie heute ist einfach ein normaler Sonntag und kommt mir nicht mehr vor wie der beste Urlaub meines Lebens. Es erstaunt mich kaum noch, dass man im See baden und dabei in die Alpen gucken kann. Die Aussicht von der Rudolf-Brun-Brücke auf die Altstadt zu beiden Seiten raubt mir nicht mehr den Atem und im Niederdorf schlängele ich mich zielstrebig durch die Touristenströme ohne links und rechts zu gucken. Brauche ich vielleicht Urlaub von der schönsten Stadt der Welt? Oder muss man alle Jahre umziehen, um sich Entdeckerdrang und Euphorie zu bewahren? Und wie lange hält man das durch?

genau ein Jahr her: Touristenfoto von der Rudolf-Brun-Brücke

Vor wenigen Tagen habe ich meine zweite Schweizer Stelle angetreten. Auch diese befristet, damit wenigstens im Job keine Gewöhnung aufkommt. Und wie um mich zu erinnern, wie außergewöhnlich schön die schönen Seiten Zürichs sind, gibt mir die neue Stelle die Möglichkeit die hässlichere Seite kennenzulernen: die Peripherie. Zersiedelte Landschaften voller Industriegebiete und kernloser Ortschaften. Stickige S-Bahnen voller graugesichtiger, anzugtragender Pendler. Fast wehmütig und mit Peter Fox im Ohr gedenke ich der Berliner Partyleichen, die mich samstags um 9.30 auf dem Weg zur Frühschicht an der Haltestelle begrüßten. Wobei, solche hat Zürich eigentlich auch zu bieten. Die fahren halt nicht S-Bahn, sondern sitzen um kurz nach 8 vor der Gräbli-Bar und spucken aufs Trottoir.

Aber nach einem Jahr ist nicht nur die (blinde?) Ankunftseuphorie verflogen, sondern es ist auch etwas passiert, was die erste Stufe vom Heimischwerden ist: Ich habe Erinnerungen an diese Stadt, romantische und unromantische, schöne und unangenehme. Bestimmte Plätze verbinde ich mit Menschen, Wege erscheinen mir viel kürzer als vor einem Jahr, Gebäude kleiner, Straßenführungen weniger verwirrend. Nach einem Jahr bin ich also nicht mehr neu hier und ganz sicher nicht verloren, aber fremd bin ich noch immer oder vielleicht jetzt erst recht. In Berlin wird man als Zugezogener erst heimisch, weiß Lea Streisand (vgl. "Weihnachten in der Heimat"), wenn man sich dort reproduziert hat und an Weihnachten nicht mehr nach Hause fährt. In Zürich ist es die Sprache: Heimisch ist, wer nicht gleich am Grüezi als fremder Fötzel erkannt wird. Und wer dann noch ein Bier bestellen kann, ohne aufzufallen, der hat fast schon Wahlrecht.

Ich arbeite dran.

Samstag, 29. Mai 2010

Ehrenrettung eines Kantons

Der Aargau ist hässlich, langweilig, flach und von konservativen Landeiern bevölkert. Eigentlich ist er nur dazu da, dass man im Zug von Zürich nach Basel oder Bern in Ruhe frühstücken kann. Aussteigen? Im Aargau? Aber wozu denn? – Soweit die Meinung der Zürcher. Nun kann ich stolz sagen: Ich habe es gewagt. Fast zwei Tage habe ich in dem verrufenen Kanton verbracht, unterwegs zu Fuß und mit dem Fahrrad. Und ich kann nur sagen: Der Aargau wird seinem Ruf nicht gerecht. Es gibt Hügel, Flüsse, sehr hübsche Barockklösterchen und schnuckelige Altstädte.

Panoramablick auf Baden AG

Ich vermute, der Schweizer an sich ist so verwöhnt von den pompösen Berglandschaften, dass ihn eine Hügel- und Flussregion einfach nicht mehr vom Hocker reißt. Dass der Aargau als hässlich gilt, liegt natürlich nicht nur am Mangel an nennenswerten Erhöhungen, sondern vor allem an der Industrie. Das Panorama des Limmattals ist tatsächlich recht verschandelt durch die ganzen Fabriken. Und es gibt zugegebenermaßen auch merkwürdige Dinge im Aargau, viele Hundesalons zum Beispiel. Es gibt Taubenzüchter, die ihr weißes Prachtstück „Princess“ rufen. Und dass jeder Ort eine eigene Aktiengesellschaft ist, kann man natürlich kapitalistisch finden.

Aber es gibt im Aargau auch lässige Leute. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen! An einem Kiosk an der Limmat, der so was wie der obere Letten von Baden ist. Und es gibt zwar Atomkraftwerke im Aargau, aber dafür gibt es auch Atomkraftgegner. Mit ein paar Tausend davon habe ich am Pfingstmontag demonstriert. Natürlich kamen die nicht alle aus der Gegend. Einige waren wohl aus Zürich. Und einige waren aus Deutschland angereist. (Woran ich erkenne, dass sie angereiste Deutsche waren und keine Immigranten? Niemand, der hier lebt, würde so Dinge sagen wie: „Ich hab Dir doch gesagt, in der Schweiz geht alles langsamer, auch die Demonstrationen.“) Aber unter den 5000 müssen doch auch ein paar aufrechte Aargauer gewesen sein. Und dann gab es noch die Anwohner am Wegesrand, die uns mit Transparenten begrüßt und bei sengender Hitze mit Trinkwasser versorgt haben.

Wenn man alles in Betracht zieht und Altstädte gegen AKWs, Hundesalons gegen Hügel und Fabriken gegen Flüsse abwägt, muss man wohl mit Pater Brown Bilanz ziehen: hübsch-hässlich habt Ihr’s hier! Mich jedenfalls, die die Winter in Ostberlin kennt und die Fabriklandschaften Baden-Württembergs, kann das nicht abschrecken. Ich werde wieder mal im Aargau aussteigen. Auch wenn’s keiner meiner Zürcher Freunde versteht.


hübsch-hässlicher Radweg an der Autobahn

Mittwoch, 26. Mai 2010

Neulich im Ausgang

Keine Angst, liebe Deutsche, Ihr gewöhnt Euch noch an das Wort. Ihr müsst es nur noch ein paar Mal lesen oder hören und schon klingt es ganz normal und nicht mehr nach Gefängnishof oder grünen Exit-Schildern. Eigentlich heißt es ja auch Uusgang und nicht Ausgang, aber das kann man irgendwie nicht schreiben und schon gar nicht in einem ansonsten hochdeutschen Text. (Ich nehme mir an dieser Stelle fest vor, eines Tages einen Blogeintrag komplett und ernsthaft in Schweizerdeutsch zu verfassen. Vielleicht poste ich sogar eine unkorrigierte und eine professionell korrigierte Version - das wäre sicher lehrreich.) Es nimmt mich noch Wunder, ob mit der Deutschenschwemme nicht eh ein neues Pidgin entsteht, in dem Ausgang ganz normal tönt und man sich höflich für das Telefon bedankt, wenn man angeläutet wird.

Was ich aber eigentlich erzählen wollte, Achtung, ist dieses: Ich habe das Kaffee Burger von Zürich entdeckt. Der Spunten heißt Meyer's und befindet sich am Lochergut. Und wie alles in Zürich, ist es natürlich noch viel besser und viel originaler als die Berliner Inkarnation. Im Meyer's kann man schon abends um 10 Koordinationsschwierigkeiten und Kommunikationsbedürfnisse (verbaler und physischer Natur) beobachten wie im Kaffee Burger morgens um halb fünf. Noch während meine Mitbewohnerin und ich an einem Freitagabend unsere Fahrräder an der Ecke abstellen, kommt ein Mann mit Hund auf uns zugeschossen und fragt, ob wir ins Meyer's wollen. Denn in dem Fall müssten wir nach der ersten Stange gleich wieder rauskommen und einen mit ihm kiffen. Unbedingt.

Innen haben wir noch nicht einmal richtig an der Bar Platz genommen, schon sind wir mit unseren Nachbarn in eine Diskussion über das angemessene Getränk und die universelle Unaufrichtigkeit verwickelt. (Trinken: Was schon? Natürlich geht nur Bier in irgendeiner Form. In schummrigen Laden mit dunkel gebeizter Holzbar und bunten Lampen trinkt man doch keinen Sekt-Aperol! Unaufrichtigkeit: Führen wir nicht alle ein Doppelleben?) Einer von beiden trinkt jedenfalls den ganzen Abend Cola, die er mit einem bunten Cocktail-Stäbchen umrührt, vielleicht damit die Kohlensäure rausgeht. Vermutlich versucht er, wieder nüchterner zu werden - der Abend ist ja schließlich noch jung. Er hängt fast auf dem Tresen, richtet sich immer mühsam auf, um das Glas zum Mund zu führen und stößt sich dabei jedesmal das giftgrüne Stäbchen neben dem rechten Auge tief in die Wange. Er fragt uns aus und hat zu allem einen Kommentar in petto. Buchbranche? Jaja, John Irving hat ein neues Buch geschrieben, das ist wohl genau der gleiche Scheiß wie die anderen von ihm, und auch genauso lang, hab ich gehört, das muss ich doch nicht lesen. Was liest du denn gerne? Martin Suter? (Nein.) Thomas Hürlimann? (Ja. Und dann auch noch ein paar nichtschweizerische Autoren, aber lassen wir das...) Und wenn ich jetzt ein Buch schreiben würde, müsstest du dann entscheiden, ob man das druckt oder nicht? (Bitte, bitte schreib kein Buch!) Aber kannst du das überhaupt, woher willst Du denn wissen, ob das gut ist oder nicht? Wenn Du jetzt mein Buch ablehnst, und dabei ist das der Hammer und wird ein Bestseller, dann ärgerst du dich doch. Fliegst du dann raus?...

Sein Kumpel ist wesentlich nüchterner, wesentlich wortkarger und wesentlich sympathischer, aber viel weniger unterhaltsam. Der Mann mit Hund gesellt sich schließlich auch noch zu uns. Er ist ein Engelmedium, findet die Schweizer Flüchtlingspolitik faschistisch und hat eine deutsche Fast-Ex-Freundin. Du bist übrigens auch ein Engel, sagt er. Ich sage, ja schon, aber nur als Metapher. Er sagt, jaja, genau, eine Metapher. Ich wüsste furchtbar gerne, was die Engel so erzählen (vor allem, wenn sie eigentlich Metaphern sind - endlich Einblick in das geheime Innenleben der Metaphern!), aber er will keine konkreten Informationen herausrücken.

Nach einigem Hinundher und sehr merkwürdigen Diskussionen endet der Abend so: Der Colatrinker kommt nach dem Rauchen mit dem Engelmedium einfach nicht zurück, seine Jacke ist noch da. Der ruhige Kumpel versucht es erfolglos auf seinem Handy. Das Engelmedium selbst wird von seiner deutschen Fast-Ex-Freundin angerufen und versinkt in einem wirren Krisengespräch. Wir nutzen die Gelegenheit zum Aufbruch.

Wie gut, dass ich jetzt weiß, wo man hier so hingeht, wenn man mal dringend auf der Suche nach (absurden) Gesprächspartnern ist, und wie gut, dass man gar nicht bis halb fünf wach bleiben muss.

Mittwoch, 5. Mai 2010

Nostalgie und Tränengas



Am 1. Mai war ich demonstrieren. Es ging gegen die Banken, also gegen Boni, gegen Schwarzgeld und gegen Staatshilfen zur Rettung von Geldinstituten. Als ich mich auf den Weg machte, wusste ich das allerdings noch gar nicht so genau. Ich ging hin, weil 1. Mai war, und am 1. Mai geht man nunmal raus (wenigstens 1 Mal im Jahr) und zeigt, dass man noch da ist, dass man noch links ist und sich immer noch mehr soziale Gerechtigkeit wünscht. Das Linkssein wurde mir dann aber doch zum Problem, als ich, in einem Meer von roten Fahnen stehend, von der venezolanischen Frauenministerin mit donnernder Stimme darauf hingewiesen wurde, dass in Venezuela des Sozialismus des 21. Jahrhunderts entstünde. Vier Frauen seien dort an der Macht – neben dem Commandante Hugo Chavez. Ohne viel über Venezuela zu wissen, machten mich allein ihre Emphase und ihre faktenarme Rede misstrauisch, ganz zu schweigen von dem Personenkult um Chavez. Später sangen um mich herum mit gereckten Fäusten Kleinunternehmer, Selbstständige und Wissenschaftler die Internationale. Naja, ok, 2 VBZler (öffentlicher Nahverkehr) waren auch in Sicht. Ich, Gewerkschaftsmitglied, schwieg.



Auch wenn ich inhaltlich mit den Forderungen der anderen Rednerinnen (die grüne Nationalrätin Katharina Prelicz-Huber und die Gewerkschaftsfunktionärin Vania Alleva) hundertprozentig übereinstimme, störte mich doch der anachronistische Schleier, der unverkennbar über der ganzen Veranstaltung lag. Pathos und Ästhetik stammten direkt aus Blockzeiten. Im Tagesgeschäft herrscht bei Gewerkschaften und Parteien Pragmatismus; einmal im Jahr braucht man offenbar ein wenig Nostalgie. Solange die bürgerlichen Parteien die 'gute alte Zeit' und ihre Werte gepachtet haben und die religiösen die Transzendenz, kommt die Linke offenbar vom Klassenkampf nicht los.

Ebenfalls anachronistisch und wirklichkeitsfern erschienen mir die Straßenschlachten, die sich am späteren Nachmittag im Langstrassenquartier entzündeten. Als kreuzberggestählte Zuzüglerin war ich mir sicher, dass mich nichts überraschen kann. Ja, eigentlich hatte ich all die Befürchtungen und Warnungen im Vorfeld, all die noch immer entgeisterten Erzählungen von den Ausschreitungen der Vorjahre für maßlos übertrieben gehalten, für einen Reflex gegen alles, was die schweizerische Ordnung und Gemütlichkeit stört. (Und im Zweifelsfall ein willkommener Anlass für gewisse Leute, nach mehr Polizeipräsenz zu rufen.)Doch wie schon im Hinblick auf das Fahrradfahren im Autoverkehr musste ich einsehen, dass Zürich doch das härtere Pflaster ist. Wirklich wahr. Die Polizei sah genauso vermummt aus wie gewohnt, nur in blau. Und sie ging härter vor als die Berliner Cops (zumindest in den letzten Jahren): Wasserwerfer wurden sowieso eingesetzt, aber auch Tränengas und Gummigeschosse. Kreuzungen wurden innerhalb von Sekunden abgeriegelt, Menschen eingekesselt. Ausscherer und Provokateure lagen in Nullkommanichts unter einem Menschenhaufen aus wütenden Zivilbeamten. Es war so ungemütlich, dass ich nicht einmal lange zusehen wollte (und das lag nicht am Regen).

Das eindrücklichste Erlebnis an diesem Tag waren aber nicht die roten Fahnen oder die schwarzen Gesichtsmasken, sondern das unwahrscheinlich und fast erschreckend leuchtende Grün der nassen Blätter und Wiesen, das mich auf dem Nachhauseweg am Sihlufer umgab. Man sollte viel öfter im Regen spazieren gehen; Nostalgie und Tränengas reichen dann doch einmal im Jahr.

Mittwoch, 21. April 2010

Sechseläuten - Schweizer Brauchtum III


Die Schweizer verkleiden sich gerne. Ob das wohl mit einer umfassenden und uralten Schweizer Identitätskrise zu tun hat? Bestimmt. Aber das ist ein anderes Thema und dazu ein andermal. Vergangenen Montag jedenfalls marschierte ein Haufen Männer in historischen Kostümen zu Blasmusik durch die Zürcher Innenstadt. Manche waren auch hoch zu Ross unterwegs. Sie trugen Lockenperücke und Gehröcke, große Hüte, Hellebarden und, äh, Palästinensertücher. Ja, einige waren als Araber verkleidet, aber ungefähr so liebevoll, wie ich und mein Bruder in jenem Jahr, als der Kinderfasching so plötzlich und unerwartet kam. Ein Nachthemd, ein Pali-Tuch, eine schwarze Kordel mussten als Notlösung herhalten. Ich habe dann altklug verkündet ich sei ein Scheich aus der Wüste, während mein vier Jahre älterer Bruder vermutlich würdevoll den vollständigen Namen von Hadschi Halef Omar rezitierte.

(Natürlich wäre ich viel lieber als Prinzessin gegangen, aber vermutlich fand meine Mutter das irgendwie unemanzipiert und süßlich. Nur einmal durfte ich tatsächlich ein rosa Rüschenkostüm tragen, musste aber wegen der Kälte eine braune Mütze dazu aufsetzen, die natürlich das gesamte Outfit zerstörte. Vermutlich fühlte meine Mama so ähnlich wie dieser geplagte Vater und dabei gab es doch damals noch gar keine Prinzessin Lillifee. Naja, zurück zu Hadschi Halef Omar.)

Von Karl May schien irgendwie auch das Orientbild dieser Zürcher Reiter zu stammen. Sie gehörten der Zunft zum Kämbel an, die ein Kamel im Wappen trägt. Es handelt sich um eine Händler- und Fuhrleutezunft und so scheint es zunächst halbwegs logisch zu sein, dass sie sich das Kamel als Wappentier gewählt haben… Lastentiere, Karawanen usw. Doch ursprünglich bedeutete Kämbel gar nicht Kamel, sondern Angoraziege, weiß Wikipedia. Warum eine Angoraziege allerdings ein sinniges Wappen für eine Händlerzunft sein soll, lässt die Netzenzyklopädie offen. Jedenfalls gab es vermutlich keine frühzeitigen Nahostkontakte der Zunft zum Kämbel und somit ist die Karl-May-Assoziation ja recht angebracht...


Das Sechseläuten ist der Tag der Zünfte. Von denen gehen einige tatsächlich auf Handwerkervereinigungen zurück, wie man als Laie erwarten würde. Aber daneben gibt es auch eine Gesellschaft der Edelleute und Ritter, die Gesellschaft zur Constaffel (das sind die Jungs mit den Hellebarden und den Kettenhemden aus graubesprühtem Grobstrick), und Quartierszünfte, die sich nicht auf ein Handwerk, sondern auf ein Stadtviertel berufen. Heutzutage wird die Mitgliedschaft in der Zunft in den Stadtzürcher Familien vererbt und hat gar nichts mehr zu tun mit einem erlernten Handwerk. Von daher wird auch verständlich, warum vielen die Zünfte und das Sechseläuten als rückständig und elitär gelten.

Und, nicht zu vergessen, frauenfeindlich. Denn im Umzug dürfen keine Frauen mitgehen. Jedenfalls eigentlich keine über 12 oder so, denn kleine Mädchen mit Perücken sieht man zuhauf, eines wird sogar in einer Sänfte durch die Gegend geschleppt. Aber offenbar wird die Altersgrenze nicht so streng gehandhabt: Kindergärtnerinnen für die Kleinen dürfen mitgehen, Blumenträgerinnen und (unkostümiert) auch Politikerinnen (vgl. Video). Doch die Ende der 80er Jahre gegründete Frauenzunft durfte bislang nie am Zug der Zünfte teilnehmen, sondern musste ihren eigenen Umzug eine halbe Stunde vor dem offiziellen Beginn durchführen. Für 2011 sind sie nun zum ersten Mal (und zunächst nur für ein Jahr auf Probe) zum Hauptzug geladen worden. Ansonsten sind Frauen beim Sechseläuten vor allem dazu vorgesehen, den Marschierenden Blumen zu bringen.


Ich persönlich verkleide mich ja auch gerne und habe den Prinzessinnen-Tick vor kurzem abgelegt. Insofern wäre ich sofort zu haben für eine Ausländerzunft oder eine Praktikantenzunft. Naja, da das Zürcher Prekariat ja inklusive mir aus ca. 3 Leuten besteht, vielleicht lieber eine Ausländerzunft. Wir könnten uns ja alle wie Karl-May-Charaktere verkleiden und würden dann kaum auffallen.

Das Sechseläuten endet auf dem Sechseläutenplatz, wo auf einem riesigen Scheiterhaufen ein künstlicher, mit Knallkörpern gefüllter Schneemann, der Böög, verbrannt wird. Die Zeit vom Anzünden des Holzes um 18 Uhr bis zur Explosion des Kopfes wird als Omen für den kommenden Sommer gewertet, je länger es dauert, desto verregneter der Sommer. Während des Feuers galoppieren die falschen Araber und andere Zünftler um das Feuer herum. Es ist eine ziemlich laute und ziemlich heidnische Angelegenheit. Wenn das Feuer später heruntergebrannt ist, findet noch ein wildes Würstchengrillen am Scheiterhaufen statt. Währenddessen besuchen sich die Zünftler noch die halbe Nacht gegenseitig in ihren Zunfthäusern in der Altstadt, immer mit Blechbläsern im Schlepptau. Solch merkwürdige Bräuche gibt es in der Schweiz. Aber dieser hier fand wenigstens mal zu einer akzeptablen Tageszeit und bei Sonnenschein statt.

hier den Böög explodieren sehen

Samstag, 3. April 2010

Blogschwund

Dies ist eine Hommage an all die Blogleichen, die es nie ans Tageslicht geschafft haben. Eine Schweigeminute für all die perfekt geschliffenen Formulierungen, die im Sarg meines Tschibo-Laptops vermodern. Für all die Loner und Loser und Nerds unter den Postings, die sich nicht auf die Tanzfläche trauen.

Was ist nur geschehen?

Berlin Bashing II und III wurden von der Stadtrealität eingeholt und überholt. Sie trauten sich plötzlich nicht mehr, rein rhetorisch gegen diesen Ort zu wettern, den sie innerhalb weniger Tage doch wieder lieb gewonnen hatten. Das Post über das Schweizer Essen findet sich übergewichtig und möchte erst zehn Kilo abnehmen, bevor es sich zeigt (Mit Atkins??? Das ist doch Schwachsinn!). Das Sprachblog fürchtete sich vor Rassismus-Vorwürfen and decided to go native altogether. Es ist im Urwald verschwunden und hat sich seither nicht mehr blicken lassen. Die Fortsetzung von der Basler Fasnacht hat der Frühling gefressen und das Blog über die Zürcher Wahlen hat aus Angst und Zweifel den richtigen Zeitpunkt verpasst. Ach, wenn Ihr doch nur direkt in meinen Kopf sehen könntet! Dann würdet Ihr dort diesen bunten Totentanz sehen und all die Texte, die schöner und spannender und wahrer sind als alle veröffentlichten.

Ich bin keine Künstlerin geworden, weil ich dazu etwas hätte produzieren müssen. Doch die unzähligen Gemälde, Skulpturen, (Tanz-)Performances und Kleider haben es niemals aus meinem Kopf hinaus geschafft. Draußen wären sie fehlbar geworden. Sie wären plötzlich abhängig von der Beschaffenheit eines realen Materials gewesen und von meinem handwerklichen Können. Ein Verrat – denn sie hätten niemals so aussehen können wie in meinen Gedanken.

Lange Zeit dachte ich, Worte wären die Abkürzung. Siri Hustvedt erschafft in den Köpfen ihrer Leser ganze Kunstwelten ohne den Umweg über Ölfarbe, Pappe oder Plastik (z. B. in „Was ich liebte“ oder in „Die Verzauberung der Lily Dahl“). Die Wirkung dieser Kunstwerke ist real; sie wirken genauso stark oder noch stärker als wirkliche Bilder – wozu braucht es also noch echte, fehlbare, zerstörbare Werke? Obwohl ich selbst mindestens zwei Denkfehler erkenne, fällt es mir doch schwer, mich von der Vorstellung einer Direktübertragung von Kunst zu verabschieden. Der erste Fehler ist: Material ist nicht das Problem der Kunst, sondern ein prägender Teil von ihr. Der zweite Fehler ist: Auch Worte sind Material und auch Worte sind fehlbar.

Und so bleiben manche meiner Posts lieber im Versteck hinter der Stirn und spickeln nur manchmal verschämt durch den Vorhang. Auch wenn sie keine Kunst sind, perfekt wären sie trotzdem so gerne.



... gilt tagsüber auf dem Brocki-Hof, nachts im Club und zu jeder Zeit auf kaffeeundgipfeli.

Samstag, 27. Februar 2010

Schweizer Brauchtum II - Morgestreich

Anscheinend finden alle spannenden Traditionen hier in der Schweiz in den frühen Morgenstunden statt. Diesmal erspare ich mir aber das Aufstehen mitten in der Nacht, indem ich einfach nicht ins Bett gehe. Ich verbringe ein paar nette Stunden bei der WG-Party im Dachstock eines wunderschönen uralten Hauses in Kleinbasel mit Blick auf den Rhein und das Trois Rois – das teuerste Hotel der Stadt. Danach ein Abstecher in die Satisfactory, ein neuer Club, der mich mit seinem Werkstatt-Garagen-Innenhof sehr an das gute alte Lovelite erinnert. Zum Glück ist auch der Eintrittspreis mit 5 Franken eher berlinerisch. Hinter dem DJ-Pult erkenne ich eine Bekannte (Danielle Bürgin, Veranstalterin von Bon Voyage), bin begeistert von ihrer Musik und freue mich, dass ich noch anderthalb Stunden Zeit habe zu tanzen.

Denn um halb vier müssen wir den Club verlassen und uns der Völkerwanderung in die Altstadt auf der anderen Rheinseite anschließen. Eine Viertelstunde später stehe ich voller Erwartungen im Gedrängel am Rümelinsplatz. Um Punkt vier passiert es: alle Lichter gehen aus (N. erzählt uns später, dass es sich sogar um ein Gesetz handelt: ein Restaurant etwa, das nicht ordnungsgemäß abgedunkelt ist, kann verklagt werden).

Wir stehen also zu Hunderten in der Dunkelheit und eine seltsame Musik hebt an – Marschmusik, die seltsam trocken ist, da sie nur von Piccolo-Flöten und Blechtrommeln gespielt wird. Verkleidete Menschen mit bunten viereckigen Lampen auf dem Kopf beginnen, in militärischen Viererreihen an uns vorüberzuziehen. Jede Fasnachts-Clique hat außerdem ihre eigene große Laterne, die das diesjährige Sujet der Clique vorstellt, meist ein aktuelles Thema aus Politik und Gesellschaft (Schweinegrippe, Bundespräsident Merz und Gaddafi, Gaddafi, Gaddafi und Gaddafi).



Zuerst spielen alle gemeinsam den „Morgestreich“, einen Marsch, der so heißt wie das Ereignis (oder ist es andersherum?), dann gehen die verschiedenen Cliquen ihre eigenen Wege und spielen ihr eigenes Programm. Einerseits sind viele der Zuschauer (wie wir) angetrunken und fröhlich, andererseits ist es eine recht feierliche und ernsthafte Angelegenheit. A. betont immer wieder, dass es sich um ein ganz anderes Erlebnis handelt, wenn man gerade erst aufgestanden ist. (Ich frage mich nur, wie man dann so unausgeschlafen und nüchtern die ganzen Besoffenen ertragen soll.)



Nachdem wir uns das Spektakel eine Weile angesehen haben, zupft mich A. am Ärmel und will los. N. legt mir galant die Hand auf den Rücken, damit ich nicht verloren gehe. Ich fühle mich beschützt. A. biegt in eine Gasse und verschwindet plötzlich rechter Hand hinter einer dunklen Glastür. Ich frage mich, ob es sich vielleicht um einen Geheimtipp zum Aufsklogehen handelt. Aber nein, hinter der Tür befindet sich ein großes Gewölbe voller Menschen, die Tee mit Rum oder Weißwein trinken, und Mehlsuppe oder Käsewähen essen.

Kleiner Exkurs: Eine Wähe ist ein Mürbeteigkuchen mit Eierguss; es gibt sie mit süßem (Obst oder Sahne) und mit salzigem Belag (Gemüse, Zwiebeln, Käse). Besonders die salzigen Sorten habe ich bereits sehr ins Herz geschlossen. Aber Achtung: die Käsewähe wird auch Käsekuchen genannt, also niemals bei Süßhunger Käsekuchen bestellen und auf etwas hoffen, das wie Omis Käsekuchen aussieht. Diese Art Gebäck wird hier Quarktorte genannt – das habe ich zumindest gelesen, angeboten wurde mir das noch nie. Aber als Alternative kann ich eine Nidelwähe empfehlen (Sahne-Füllung).

Ich genieße in dem gespenstischen Gewölbe eine Käsewähe. Bei Tag soll es sich um ein normales Studentencafé mit Gratis-WLAN handeln. Ich überlege, welche Orte auf welche Art und Weise seltsam wirken würden, wenn die Beleuchtung einfach mal ausgeschaltet bliebe. Bahnhöfe, Zahnarztpraxen, Aufzüge...
Wir ziehen dann noch durch ein paar Fasnachtskeller, die nur an den drei ‚schönsten Tagen’ im Jahr geöffnet haben. Zum Teil sind sie wunderschön dekoriert. In einem bestehen alle Wände aus buntbemalten, von hinten beleuchteten Leinwänden, wie sie auch für die großen Laternen verwendet werden. Hundemüde falle ich gegen 6 unangemeldet ins Gästebett. Aber das war erst der Anfang der Fasnacht...


Nicht ganz jugendfreie Laterne: Bundespräsident Merz guckt aus dem Hosenstall.

Sonntag, 24. Januar 2010

Schöne Dinge

Drei schöne Dinge habe ich letzte Woche gesehen. Das erste war ein alternder Postmann, der in einer gelben Windjacke auf einem kleinen Moped neben meinem Tram herbrauste. (Ja, man sagt hier: das Tram.) Er hatte ein zerfurchtes, sympathisches Gesicht mit grauem Dreitagebart. Beim Beschleunigen sang er fröhlich das Motorengeräusch mit, wie ich an seinen gespitzten Lippen erkennen konnte.

Das zweite war eine sehr ordentlich gekleidete Schuhverkäuferin mit schwarzem Rock, grauem Twinset und Perlenkette, die mit einer langen Stange sorgfältig und voller Ruhe (fast möchte ich sagen: mit Eleganz und Disziplin) die Schuhpaare in der vordersten Schaufensterreihe zurechtschob. Es schien mir ein Fenster in die Sechziger Jahre zu sein.

Und das dritte war eine Frau in meinem Alter, die mir an einem kalten Tag auf meinem Heimweg von der Schmiede Wiedikon entgegenkam. Sie hatte wie ich die Hände in den Taschen vergraben. Ihr Mobiltelefon hatte sie zum Telefonieren einfach unter den elastischen Rand ihrer rosafarbenen Zopfmuster-Wollstrickmütze geklemmt. Der untere Teil des Klapphandys wippte im Takt ihrer Schritte.

Dann habe ich noch etwas weniger schönes gesehen. Vorgestern im vollbesetzten Tram saßen auf drei Plätzen hintereinander Leute, die telefonierten. Zuhinterst ein junger Karrieredeutscher mit millimeterkurzen Haaren und modischem Dreitagebart, an die Person in der Mitte erinnere ich mich nicht, und zuvorderst saß eine elegante mittelalte Schweizerin mit langen dunklen Haaren, Nana-Mouskouri-Brille und Lippenstift. Alle anderen Fahrgäste starrten wie üblich unbeteiligt vor sich hin und im ganzen Wagen war nur das Raunen dieser drei zu hören. Auf dem Einzelplatz den Telefonierern gegenüber saß ein wunderschöner, sehr trauriger Mann mit tiefroten Augen, der sich das linke, den Raunern zugewandte Ohr zuhielt.


(bunte Limmatkiesel)

Sonntag, 17. Januar 2010

Schweizer Brauchtum

Ich bin die Königin! Ok, ich persönlich wusste das ja schon lange (spätestens seit ich 4 bin), aber seit ich letzte Woche auf ein weißes Plastikteil gebissen habe, ist es offiziell. Und das kam so: Am Dreikönigstag wurde ich genötigt, ein Stück Hefekuchen zu wählen und zu essen (mit Rosinen, was schon ein recht hoher Preis ist für die zehnprozentige Chance, Königin zu werden) und darin befand sich eben ein kleiner weißer Plastikkönig, wobei es vielleicht sogar eine Königin ist, so genau kann man das unter den königlichen Gewändern nicht erkennen. Mir wurde jedenfalls versichert, dass sich im Zuge der zumindest in den städtischen Gebieten bereits sehr verbreiteten Gleichstellungsbewegung vereinzelt bereits Königinnen in den Kuchen befänden. Jedenfalls waren es die Rosinen am Ende doch wert, denn ich bekam eine glänzende Pappkrone und mein Chef redete mich allen ernstes mit „Eure Majestät“ an. Naja, um ganz ehrlich zu sein, klang es mehr wie „Eure Majestät, im Fall“.

(„Im Fall“ ist schweizerdeutsch für „eigentlich“, „genau genommen“ oder „in diesem Fall“ und kommt in jedem ordentlichen schweizerdeutschen Satz mehrfach vor. In einem hochdeutschen Satz mehrfach „eigentlich“ unterzubringen schaffte eigentlich nur mein Schulkamerad Jan mit dieser unvergessenen Glanzleistung: „Eigentlich hat die eigentlich christliche CDU das doch eigentlich immer schon so gemacht – eigentlich.“ Aber an dieser Stelle kommt natürlich die Definition von Hochdeutsch ins Wanken.)

Ich bin übrigens auch die Eiskönigin. Denn ich kann jetzt rückwärts fahren, in beide Richtungen, äh, also ich meine natürlich in Links- und Rechtskurven. Natürlich lässt sich das noch optimieren, aber ich bin seit einem Durchbruch vor wenigen Wochen auf dem richtigen Weg. Ganz ohne Stürze geht das nicht ab, aber zum Glück bin ich gut gepolstert. Wenn ich die Kinder sehe, die sich lustvoll jauchzend und mit Anlauf aufs Eis werfen, dann wünsche ich mir von Herzen, ich könnte diese Erwachsenenangst vor dem Fallen wieder loswerden. Doch Unbekümmertheit und Unschuld bekommt man nicht zurück.

Aber zurück zum Schweizer Brauchtum: An diesem Mittwoch hat das neue Jahr auch in der Schweizer Region angefangen, wo eigentlich nichts vorangehen dürfte – schließlich sind sich alle einig, dass hier die Zeit stehen geblieben ist, im Appenzell. Hier begrüßt man zwar das neue Jahr, doch man tut dies nach einem Kalender, der überall sonst schon seit Jahrhunderten überholt ist und zwar aus Protest, denn die Ausserrhodener lassen sich von niemand sagen, wann sie ihre Feste zu feiern haben.

Das Neujahrsfest selbst beginnt in der Morgendämmerung, weshalb wir aus Zürich angereisten Schaulustigen auch angemessen unausgeschlafen sind. Vermutlich ist das auch Teil der Magie. Schweigend stapfen wir im noch dunklen und verschneiten Hügelland herum, über dem man gerade erst die Umrisse des Säntis erkennt. Und dann hören wir von Ferne Geläut und sehen die ersten Silvesterkläuse vor einem Bauernhof im Kreis stehen. Es sind Wüste, das heißt sie sind von Kopf bis Fuß in Tannenzweige gehüllt, tragen Masken aus Holz und Tannenzapfen und Hüte aus Reisig. Zwei tragen Schellen auf dem Rücken, sie hüpfen umher und drehen sich. Die anderen haben vor Brust und Rücken je eine riesige Kuhglocke, die sie läuten, indem sie träge ihre Oberkörper drehen. Dann bekommen sie von der Bäuerin Schnaps, reihum gibt sie den Kläusen aus einem Krug zu trinken. Durch die Mundlöcher in den Masken geht das nur mit einem Strohhalm.

Dann beginnen sie zu singen, zu zäuerlen. Einer beginnt und die anderen steigen nacheinander in sphärischen Naturharmonien ein. Das Zäuerli wird auch Naturjodel genannt, hat aber mit dem schnellen Gesang mit der überschnappenden Stimme, den ich unter Jodeln verstehe, nichts zu tun. (Hier mal reinhören!) Es sind stattdessen ganz langsame, schwebende Lieder, die perfekt in diese Landschaft passen; vor allem wenn wie in diesem Moment die Dämmerung voranschreitet und das Licht langsam auf die Schneedecken zu rieseln beginnt.



Danach witzeln die Kläuse ein wenig herum (auf Appenzellerisch, ich habe also kein Wort verstanden) und geben der Bäuerin und ihrem Sohn zum Abschied die Hand. Dann hüpfen sie klingelnd die verschneite Auffahrt hinunter zum nächsten Haus. Dass die Kläuse reden dürfen, dass sie scherzen und den Bauern die Hand geben, erscheint mir seltsam. Denn als Afrikareisende war ich fast automatisch davon ausgegangen, dass die Menschen unter der Maske nicht als Mensch erkannt werden dürfen, weil sie doch in diesem Moment die Inkorporierung eines Geistes sind und nicht ihr menschliches Selbst und weil es die Heiligkeit des Anlasses schmälern würde.


(schön-wüste Kläuse)

Später sehen wir noch viele andere Kläuse, viele Wüste und auch einige Schön-Wüste mit großen Hüten mit kleinen Menschen und Kühen und Scheunen drauf. Schöne Kläuse, die mit den wirklich aufwendigen Hüten und den Frauenkleidern, sehen wir an diesem Tag nicht. Aber das frühe Aufstehen hat sich trotzdem gelohnt, noch dazu war ich so stolz auf mich, tatsächlich um 5 aufgestanden zu sein, dass ich mich dann auch noch wie die Königin des anbrechenden Morgens gefühlt habe.


(rieselnde Dämmerung im Appenzell)