Sonntag, 11. Juli 2010

Jahrestag

Nun, da das Turnier für die deutsche Mannschaft definitiv vorüber ist, kann ich endlich wieder bloggen. Denn, wie wäre das vorher möglich gewesen, ohne farbenblinde Prognosen abzugeben (dafür gibt es ja schließlich Oktopoden) und ohne übers Fußballgucken im Ausland und den wenig patriotische Gefühle auslösenden Anblick schreiender deutscher Fans im Zürcher Hauptbahnhof (Olé – olé, olé, olé, Super-Deutschland, olé) zu philosophieren? Wie hätte ich vermeiden können, über Dinge zu fachsimpeln, von den ich keine Ahnung habe, wie Fouls, ungewolltes Handspiel und Abseitsfallen? (Hier übrigens nur auf Englisch: Hands, Offside, Out.) Antwort: Gar nicht. Also habe ich das Problem lieber ausgesessen. Früher oder später musste es sich ja von alleine lösen.

Unterdessen bin ich schon ein Jahr hier – und habe es gar nicht gemerkt! Eine Freundin musste mich darauf aufmerksam machen, ein Mitglied jener vermeintlichen Schauspieltruppe, die mich an meinem zweiten Abend in der Stadt überfallen und eingekesselt hatte. Sie war es auch, die berechtigterweise ein Bilanz-Posting einforderte.

Und nun? Was gibt es zu bilanzieren? Ich bin nicht mehr neu hier, die Routine macht sich breit. Ein Sonntag in der Badi wie heute ist einfach ein normaler Sonntag und kommt mir nicht mehr vor wie der beste Urlaub meines Lebens. Es erstaunt mich kaum noch, dass man im See baden und dabei in die Alpen gucken kann. Die Aussicht von der Rudolf-Brun-Brücke auf die Altstadt zu beiden Seiten raubt mir nicht mehr den Atem und im Niederdorf schlängele ich mich zielstrebig durch die Touristenströme ohne links und rechts zu gucken. Brauche ich vielleicht Urlaub von der schönsten Stadt der Welt? Oder muss man alle Jahre umziehen, um sich Entdeckerdrang und Euphorie zu bewahren? Und wie lange hält man das durch?

genau ein Jahr her: Touristenfoto von der Rudolf-Brun-Brücke

Vor wenigen Tagen habe ich meine zweite Schweizer Stelle angetreten. Auch diese befristet, damit wenigstens im Job keine Gewöhnung aufkommt. Und wie um mich zu erinnern, wie außergewöhnlich schön die schönen Seiten Zürichs sind, gibt mir die neue Stelle die Möglichkeit die hässlichere Seite kennenzulernen: die Peripherie. Zersiedelte Landschaften voller Industriegebiete und kernloser Ortschaften. Stickige S-Bahnen voller graugesichtiger, anzugtragender Pendler. Fast wehmütig und mit Peter Fox im Ohr gedenke ich der Berliner Partyleichen, die mich samstags um 9.30 auf dem Weg zur Frühschicht an der Haltestelle begrüßten. Wobei, solche hat Zürich eigentlich auch zu bieten. Die fahren halt nicht S-Bahn, sondern sitzen um kurz nach 8 vor der Gräbli-Bar und spucken aufs Trottoir.

Aber nach einem Jahr ist nicht nur die (blinde?) Ankunftseuphorie verflogen, sondern es ist auch etwas passiert, was die erste Stufe vom Heimischwerden ist: Ich habe Erinnerungen an diese Stadt, romantische und unromantische, schöne und unangenehme. Bestimmte Plätze verbinde ich mit Menschen, Wege erscheinen mir viel kürzer als vor einem Jahr, Gebäude kleiner, Straßenführungen weniger verwirrend. Nach einem Jahr bin ich also nicht mehr neu hier und ganz sicher nicht verloren, aber fremd bin ich noch immer oder vielleicht jetzt erst recht. In Berlin wird man als Zugezogener erst heimisch, weiß Lea Streisand (vgl. "Weihnachten in der Heimat"), wenn man sich dort reproduziert hat und an Weihnachten nicht mehr nach Hause fährt. In Zürich ist es die Sprache: Heimisch ist, wer nicht gleich am Grüezi als fremder Fötzel erkannt wird. Und wer dann noch ein Bier bestellen kann, ohne aufzufallen, der hat fast schon Wahlrecht.

Ich arbeite dran.