Mittwoch, 5. Mai 2010

Nostalgie und Tränengas



Am 1. Mai war ich demonstrieren. Es ging gegen die Banken, also gegen Boni, gegen Schwarzgeld und gegen Staatshilfen zur Rettung von Geldinstituten. Als ich mich auf den Weg machte, wusste ich das allerdings noch gar nicht so genau. Ich ging hin, weil 1. Mai war, und am 1. Mai geht man nunmal raus (wenigstens 1 Mal im Jahr) und zeigt, dass man noch da ist, dass man noch links ist und sich immer noch mehr soziale Gerechtigkeit wünscht. Das Linkssein wurde mir dann aber doch zum Problem, als ich, in einem Meer von roten Fahnen stehend, von der venezolanischen Frauenministerin mit donnernder Stimme darauf hingewiesen wurde, dass in Venezuela des Sozialismus des 21. Jahrhunderts entstünde. Vier Frauen seien dort an der Macht – neben dem Commandante Hugo Chavez. Ohne viel über Venezuela zu wissen, machten mich allein ihre Emphase und ihre faktenarme Rede misstrauisch, ganz zu schweigen von dem Personenkult um Chavez. Später sangen um mich herum mit gereckten Fäusten Kleinunternehmer, Selbstständige und Wissenschaftler die Internationale. Naja, ok, 2 VBZler (öffentlicher Nahverkehr) waren auch in Sicht. Ich, Gewerkschaftsmitglied, schwieg.



Auch wenn ich inhaltlich mit den Forderungen der anderen Rednerinnen (die grüne Nationalrätin Katharina Prelicz-Huber und die Gewerkschaftsfunktionärin Vania Alleva) hundertprozentig übereinstimme, störte mich doch der anachronistische Schleier, der unverkennbar über der ganzen Veranstaltung lag. Pathos und Ästhetik stammten direkt aus Blockzeiten. Im Tagesgeschäft herrscht bei Gewerkschaften und Parteien Pragmatismus; einmal im Jahr braucht man offenbar ein wenig Nostalgie. Solange die bürgerlichen Parteien die 'gute alte Zeit' und ihre Werte gepachtet haben und die religiösen die Transzendenz, kommt die Linke offenbar vom Klassenkampf nicht los.

Ebenfalls anachronistisch und wirklichkeitsfern erschienen mir die Straßenschlachten, die sich am späteren Nachmittag im Langstrassenquartier entzündeten. Als kreuzberggestählte Zuzüglerin war ich mir sicher, dass mich nichts überraschen kann. Ja, eigentlich hatte ich all die Befürchtungen und Warnungen im Vorfeld, all die noch immer entgeisterten Erzählungen von den Ausschreitungen der Vorjahre für maßlos übertrieben gehalten, für einen Reflex gegen alles, was die schweizerische Ordnung und Gemütlichkeit stört. (Und im Zweifelsfall ein willkommener Anlass für gewisse Leute, nach mehr Polizeipräsenz zu rufen.)Doch wie schon im Hinblick auf das Fahrradfahren im Autoverkehr musste ich einsehen, dass Zürich doch das härtere Pflaster ist. Wirklich wahr. Die Polizei sah genauso vermummt aus wie gewohnt, nur in blau. Und sie ging härter vor als die Berliner Cops (zumindest in den letzten Jahren): Wasserwerfer wurden sowieso eingesetzt, aber auch Tränengas und Gummigeschosse. Kreuzungen wurden innerhalb von Sekunden abgeriegelt, Menschen eingekesselt. Ausscherer und Provokateure lagen in Nullkommanichts unter einem Menschenhaufen aus wütenden Zivilbeamten. Es war so ungemütlich, dass ich nicht einmal lange zusehen wollte (und das lag nicht am Regen).

Das eindrücklichste Erlebnis an diesem Tag waren aber nicht die roten Fahnen oder die schwarzen Gesichtsmasken, sondern das unwahrscheinlich und fast erschreckend leuchtende Grün der nassen Blätter und Wiesen, das mich auf dem Nachhauseweg am Sihlufer umgab. Man sollte viel öfter im Regen spazieren gehen; Nostalgie und Tränengas reichen dann doch einmal im Jahr.

1 Kommentar:

  1. Bin ganz einer Meinung mit Dir...speziell zum anachronistischen Schleier, der wohl ein ganzeiropäisches Phänomen dieses Teil "der Linken" ist...
    (Die Kreuzberger Demo verlief übrigens diesmal auch über die Neuköllner Friedelstr., und Jonathan war beim Straße-Kreuzen auch mal 3 Minuten Teil des Zugs...)

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