Sonntag, 16. August 2009

Planlos mit Velo

oder Fahrradfahren in Zürich I

Ich hatte mich eigentlich immer für eine großartige Fahrradfahrerin gehalten. Die Kunst besteht neben einer unumstößlichen Balance, welche die Hände am Lenker überflüssig macht und so Rauchen, Telefonieren und Gestikulieren während der Fahrt erlaubt, vor allem darin, ein feines Gespür dafür zu entwickeln, welche Regeln es einzuhalten und welche es zu übertreten gilt. In Berlin, so glaube ich ohne Bescheidenheit sagen zu dürfen, hatte ich dies zur Perfektion gebracht: Im Wesentlichen hielt ich mich korrekt an die StVO, nur im richtigen Moment benutzte ich kurz einen Gehweg oder eine Fußgängerfurt. Nur selten überquerte ich rote Ampeln und wenn, dann nie ohne mich mit einem Schulterblick davon überzeugt zu haben, dass keine Cops in der Nähe waren. Unvergesslich ist mir übrigens der Polizist, der mich anhielt, weil ich an der Kreuzung Mehringdamm/Blücherstraße die Straße bei Fußgängergrün auf der Fußgängerfurt überquerte – und dann auch noch in der falschen Richtung!

Noch bevor ich überhaupt hierher gezogen war, gab es für mich als Radlerin in Zürich ein böses Erwachen. Als ich vor nun schon vier Wochen zum ersten Mal versuchte, das Kreisbüro (Meldestelle) meines neuen Heimatkreises zu erreichen, wurde mir klar, dass meine Berliner Gewohnheiten hier nicht taugten und meine Gewissheit, auf dem Fahrrad schon immer irgendwie durch- und anzukommen, reine Überheblichkeit gewesen war. Die Schmiede Wiedikon, der historische Quartierskern in der Nähe meiner neuen Wohnung, liegt im Auge eines Sturms aus Baustellen und Einbahnstraßen. Da ich noch nicht wusste (und noch immer nicht sicher weiß), welche Regeln man (zumal angesichts einer gefährlichen Engstelle) getrost übertreten kann und welche Abweichungen zur sofortigen Ausweisung einer noch nicht gemeldeten Ausländerin führen würden, versuchte ich mich vollkommen korrekt zu verhalten. Panik erfasste mich angesichts zweideutiger Verkehrszeichen. Alle Straßen, die in die richtige Richtung führten, waren gesperrt. Ich schwitzte Blut und Wasser, bis ich mit Müh und Not den rettenden Hafen des Kreisbüros erreichte. Von meiner Souveränität war nichts geblieben.

Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass Wiedikon das Bermuda-Dreieck von Zürich ist: wer einmal drin ist, findet nie wieder heraus. Seltsame Strömungen bestehend aus kleinen gelben Pfeilen führen ihn so lange in die Irre, bis er vor Erschöpfung zusammenbricht. Hinein geht es seltsamerweise recht gut. Als ich das erste Mal abends mit dem Velo nach Hause fahren musste, sagte ein Zürcher Freund zu mir: es geht doch immer geradeaus! Ich habe ihn fast für verrückt erklärt und war sehr erstaunt, als ich seinen Anweisungen Folge leistend plötzlich vor meiner Haustür stand. Nur hinaus komme ich einfach nicht. Tagelang habe ich enorme Umwege auf mich genommen und neue Stadtviertel erkundet, weil ich glaubte, die kleinen gelben Pfeile seien alle für mich gemacht, und als anpassungswillige Zugezogene, wagte ich es nicht, sie zu ignorieren. Wie ein Stück Treibholz folgte ich den Strömungen, die mich weiter und weiter vom Kurs abtrieben.

In meiner Not griff ich dann bald zu dem billigen Trick, das Viertel einfach in der entgegengesetzten Richtung zu verlassen und so den Todesstrudel weiträumig zu umfahren. Dabei muss ich durch ein Quartier mit dem schönen Namen „Enge“. Ich war sehr überzeugt, dass die Bezeichnung nicht von „eng“ herrührt, sondern von einem Gebirge namens Engimatt. Schließlich gibt es in Enge auch die Engimattstrasse (ich lese noch immer: Enigma…) und schließlich denke ich bei „Matt“ sofort an Berge: Matterhorn, Zermatt und … mehr fällt mir grade nicht ein. Doch ich musste mich bald eines besseren belehren lassen. „Enge“ kommt tatsächlich von „eng“ und bezieht sich auf die Enge zwischen dem ehemaligen Seeufer und einem Hogger (Hügel). Und „Matt/Matte“ heißt keinesfalls Berg, sondern Wiese, eine solche kann sich natürlich am Hang befinden oder in der Ebene. Im Fall des Matterhorns befindet sie sich übrigens am Fuße des Berges; es handelt sich also nicht etwa um einen schneebedeckten fiktiven Garten, wie den vom Vreneli.

Nun durchquere ich jeden Tag die Enge, grüße hinter dem Bahnhof die Schafe, die dort auf einem Hang mitten im Wohngebiet weiden, und freue mich auf dem Heimweg bei Regen über einen dampfenden Üetliberg. Immer wieder versucht ein freundlicher Zürcher mich darauf hinzuweisen, dass es doch viel schlauer wäre, die Sihl nördlich von meiner Wohnung zu überqueren und so das Viertel direkt in Richtung Innenstadt zu verlassen. Doch ich lasse mich nicht mehr ins Bockshorn jagen: ich weiß genau, in dieser Richtung gibt es keinen Fluß, sondern nur Stadtautobahnen und jede Menge kleiner gelber Pfeile, die wie Irrlichter meinen Untergang betreiben.


dampfender Üetliberg bei Regen von Enge aus gesehen

1 Kommentar:

  1. irgendwann werden wir das noch schaffen, dir den weg über die sihl zu zeigen ;-)
    (wobei wir den sihlberg vermeiden werden, auch so ein hogger)

    einfach göttlich der beitrag, allerdings muss es sich da um ein ganz anderes wiedikon handeln, als jenes, in dem ich jeweils meinen bruder oder meine eltern besuche, zu fuss, oder mit dem velo...

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