Mittwoch, 29. Juli 2009

Zwanghaft in Zürich



„Panik“ verkündet das Dach vom Binz-Squat ganz in meiner Nähe. Und tatsächlich müssen die Bewohner und Nutzer dieses wunderschönen Fabrikareals eine Räumung fürchten (hier dagegen sein). Doch ich habe ganz frisch ein Dach über dem Kopf und brauche eigentlich keine Angst zu haben in Zürich. Oder?

Ich denke nun schon eine ganze Weile obsessiv darüber nach, ob ich eigentlich etwas beunruhigend finde in Zürich. Jede Stadt, die ich in meinem Leben ein bisschen besser kennengelernt habe, hatte ein dunkles Geheimnis. In Stuttgart waren das provinzielle Engstirnigkeit und schwäbische Indiskretion; in Ouagadougou üble Nachrede und die schwer bewaffneten Polizisten/Gendarmen/Militärs und wie sie alle heißen. Und in Berlin – tja, da weiß ich gar nicht wo ich anfangen soll. Wobei Berlin aus seinen Schattenseiten meist kein Geheimnis macht, im Gegenteil, es werden sogar Hymnen auf sie gedichtet („Guten Morgen Berlin, Du kannst so hässlich sein, so dreckig und grau, du kannst so schön schrecklich sein, Deine Nächte fressen mich auf.“) Was mich persönlich an Berlin am meisten beunruhigt, sind vermutlich all die anderen Beunruhigten und Getriebenen, die Selbstgespräche führend durch die Straßen wandern. Ihre schiere Zahl und ihre Aggressivität erschrecken mich.

In Zürich habe ich seit meiner Ankunft die Verrückten minutiös gezählt. Mit erstaunlicher Regelmäßigkeit treffe ich eine/n pro Tag. Nur einer ist mir ein zweites Mal begegnet, dafür hatte er beim ersten Mal einen Kumpel dabei. Heute habe ich noch keinen gesehen, aber der Tag ist ja noch nicht zu Ende. Niemand hat mich bisher persönlich angesprochen oder beleidigt, ich wurde nicht grundlos als Schlampe beschimpft oder geschupst wie in Berlin gerne mal. Ich denke, ein mit sich selbst Redender am Tag wird mich nicht aus der Ruhe bringen.

Eine Berliner Freundin findet die Schweizer Sauberkeit beunruhigend. „Man bekommt schnell das Gefühl, man müsse da mitmachen.“ Doch ein vor sich hin gammelnder Kühlschrank und eine weggeworfene PET-Flasche auf einem Wiedikoner Gehweg beruhigen sie wieder. Vielleicht ist die Schweiz gar nicht so sauber und ordnungsliebend wie ihr Ruf?

Ich empfinde Sauberkeit und Ordentlichkeit (bis jetzt) keineswegs als steril und autoritär und beunruhigend, sondern geradezu als erfrischend. Voller Demut bin ich bereit, meinen Wochenrhythmus dem rigorosen Waschtag- und Müllabholtagsystem anzupassen. Ich werde den Papiermüll brav in Päckchen schnüren und meine Zürisäcke erst am Montagmorgen rausstellen. Vermutlich treffen diese Schweizer Eigenheiten aus mehreren Gründen bei mir auf Gegenliebe: 1. mein Willen zur Unterordnung, 2. meine Liebe zu Strukturen und Systemen und 3. meine schwäbischen Wurzeln. Einiges, was ich in Stuttgart aus Gründen der noch nicht ganz abgeschlossenen jugendlichen Rebellion einfach ablehnen muss (Kehrwoche, Idylle), erlaube ich mir in der Zürcher Ausprägung gut zu finden und cool und exotisch.

Doch wo liegt dann Zürichs dunkles Geheimnis? Welches ist der Haken, welches ist der Grund, dass Zürich 2009 nach 8 Jahren von Platz 1 der Mercer-Studie für Lebensqualität verdrängt wurde? Ich werde es herausfinden. Noch warten zahllose unentdeckte Welten (Arbeitswelt) auf mich, neue Stadtviertel und andere Jahreszeiten.


(Gruselige Street Art auf der Manessestrasse.)

4 Kommentare:

  1. Vielleicht kann Dich nach dieser bunten Mischung an Wohn-Städten einfach auch nicht mehr viel schocken?
    Wünsche Dir gute Eingewöhnungstage in Zürich!! (Ich bin vom 8.-23.8. nicht in Berlin, aber SPÄTESTENS danach sollten wir mal telefonieren...)
    Liebe Grüße,
    Hannah

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  2. Hallo Vera, schön, deine Texte zu lesen! Viel Spaß beim weiteren Erkunden von Zürich!
    Nur bzgl. der "Kehrwoche" will ich dir widersprechen... Die ist wirklich "no fun". Über meinen Bruder erfahre ich immer wieder, wie sehr dieses Thema die Nachbarschaft dominiert. Und darüber schüttele ich gerne aus der Ferne den Kopf.
    Wünsche dir aber natürlich, dass es in Zürich entspannter zugeht.

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  3. Tja, vielleicht gibt's auch nichts Unheimliches in Zürich?! Wäre mir bisher jedenfalls auch nicht aufgefallen. Und das Schweizer Städteranking (129 Orte total) beschert Zürich den Platz 2 (http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Das-ist-die-attraktivste-Stadt-der-Schweiz/story/21479787)
    hinter Zug, wobei das nicht wirklich Stadt genannt werden kann (Ich darf mir diesen Seitenhieb erlauben, weil ich selber von dort komme...). Und Zug hat den ersten Platz dank der Nähe zu Zürich!

    Vorgestern hat mir zwar meine Mutter von etwas "Unheimlichen" in Zürich berichtet: Sie war zu Besuch hier in der "Grossstadt" und meinte am Schluss: "So viele Leute immer unterwegs, das ist unheimlich." Ich fragte ganz erstaunt: "Viele Leute? Zürich ist doch halbleer wegen den Sommerferien! Ok, vielleicht hat's dafür ein paar Touristen." Also alles eine Sache der persönlichen Einschätzung...
    Gruss, Sandra

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  4. @Kongo-Otto: sag ich doch! Vor igendwas sind wir schließlich auch geflüchtet, oder?

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