Samstag, 12. September 2009

Neusein

An diesem kühlen Herbsttag sitze ich mit Kaffee und Schweizer Schokolade am Fenster, höre mal wieder Counting Crows und frage mich, was eigentlich das Tolle daran ist, irgendwo neu zu sein. Warum braucht denn der Mensch hin und wieder den sogenannten Tapetenwechsel?

Ich habe mal gelesen, dass die Zeit mit zunehmendem Alter schneller vergeht, weil man weniger Neues erlebt und das Gehirn die Zeit sozusagen in neuen Informationen misst. Und tatsächlich kann man das doch an sich selbst beobachten: Die Monate, die man ohne große Veränderungen den gleichen Job gemacht hat und am Wochenende immer mit den gleichen Leuten in den gleichen Club ging, schieben sich in der Erinnerung gerne zu einer einzigen Woche zusammen. Vielleicht löst also das Gehirn aus einer Art Selbsterhaltungstrieb in regelmäßigen Abständen (die vermutlich von Mensch zu Mensch stark variieren) den Wunsch aus, neue Landschaften und Menschen zu sehen, neue Dinge zu tun und im buchstäblichen Sinn neue Wege zu gehen. Es erklärt aber nicht, warum es für uns auch wichtig ist, hin und wieder als etwas Neues wahrgenommen zu werden.

Es liegt eigentlich auf der Hand. Man ist aufmerksamer und bekommt selbst mehr Aufmerksamkeit. Die Unvoreingenommenheit der neuen Umgebung macht es möglich, plötzlich anders aufzutreten. (O wer einmal jemand Anderes sein könnte!) Und am wichtigsten: gespiegelt in unbekannten und unvoreingenommenen Augen, sieht man sich selbst plötzlich anders. (O wer sich einmal auf den Kopf sehen könnte!) An das Bild, das die alten Freunde von einem haben, hat man sich längst gewöhnt, ja man inkorporiert es förmlich, indem man unbewusst ihre Erwartungen erfüllt. Wir sind so sehr mit dem verwachsen, wie unsere altbekannte Umgebung uns wahrnimmt, dass es keine Möglichkeit gibt, diese Wahrnehmung mal probeweise überzustreifen und sie als etwas Fremdes und Äußeres zu empfinden. Die Gelegenheit, sich selbst auf den Kopf zu sehen, gibt es immer nur für einen kurzen Moment, wenn man neue Leute kennenlernt, am besten so kontextfrei wie möglich.

Wenn ich so darüber nachdenke, scheint mir: Fortgehen ist gar nicht etwas für Mutige und Abenteuerlustige, für Selbstbewusste und Menschen, die mit sich im Einklang sind, sondern es ist etwas für Melancholiker. Für die, die mit sich selbst nicht so richtig klarkommen. Wie Moritz, den ich hier kennengelernt habe; er ist auch Migrant und reist in seiner Freizeit wie verrückt um die Welt. Erst nach einigem Zögern erzählt er mir von seinem Berufsziel, weil das für die meisten klingt wie ein alberner Kindheitstraum: Astronaut. Bei mir bleibt kein Zweifel, dass es ihm nicht allein darum geht, das All zu erforschen (der Weltraum, unendliche Weiten...). Er will vor allem so viel Raum zwischen sich und sich selbst / seine Herkunft zu bringen wie in den Grenzen der heutigen Technik nur möglich. Die Erde aus 40.000 km Entfernung zu betrachten ist in jedem Fall eine neue Perspektive und sicherlich auch eine Art sich selbst auf den Kopf zu sehen.

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